„Die Selbstüberschätzung tötet den Erfolg im Keim“
02.12.2021 - Selbstüberschätzung als Grund für geringe Händehygiene-Compliance?
Wichtigste Handlungsempfehlung und Einzelmaßnahme der Prävention nosokomialer Infektionen ist nach wie vor die Händehygiene. Sie trägt wesentlich zur Vermeidung von Morbidität und Mortalität bei und kann entscheidenden Einfluss auf die Finanzen einer Klinik nehmen: Eine Kostenreduktion durch Verhinderung von postoperativen Wundinfektionen von bis zu 5.000 € pro Patient ist möglich. Im Sinne des Patienten- und Gemeinwohls würde man daher annehmen, dass die Händehygiene von den in Kliniken arbeitenden Personen entsprechend den Empfehlungen von KRINKO und WHO durchgeführt wird. Dennoch zeigen immer wieder verschiedene Studien, dass die Händehygiene-Compliance eher eine mittlere als eine hohe Rate aufweist. Im Gegensatz dazu steht die Selbsteinschätzung des klinischen Personals bezüglich ihres eigenen hygienischen Verhaltens: In mehreren Publikationen konnten Selbstüberschätzungseffekte gefunden werden.
Selbstüberschätzungseffekte
Selbstüberschätzungseffekte („Overconfidence effects“) lassen sich in unterschiedliche Kategorien einteilen. „Overestimation“ bezeichnet die Selbstüberschätzung von eigenen Fähigkeiten, eigener Kontrolle und eigenen Erfolgschancen. „Overplacement“ meint die Selbstüberschätzung innerhalb einer Gruppe bezüglich der eigenen Position. „Overprecision“ ist definiert als übermäßig starke Überzeugung von der Richtigkeit der eigenen Einschätzung.
Eine Arbeitsgruppe um den Anästhesiologen und Krankenhaushygieniker Dr. Stefan Bushuven konnte in mehreren Studien zeigen, dass sich klinisch tätige Mitarbeitende deutlich in ihrem Wissen zur Händehygiene überschätzten (Overestimation) und sich im Hinblick auf die Infektionsprävention als kompetenter als andere einschätzten (Overplacement). Auch in der Studie „Wundinfektionen und Antibiotikaverbrauch in der Chirurgie“ (WACH) des UKL und der MHH, an dem nicht-universitäre Krankenhäuser teilnahmen, wurde die Überschätzung der eigenen Händehygiene durch Klinikbelegschaften deutlich. Die Diskrepanz zwischen Fremd- und Selbsteinschätzung veranschaulicht die Abbildung exemplarisch. Woher kommt diese Selbstüberschätzung?
Schutz des Selbst
In der Sozialpsychologie sind Urteilsheuristiken ein bekanntes Phänomen. Der Psychologe und Nobelpreisträger Prof. Daniel Kahnemann zählt die Selbstüberschätzung zu den stärksten kognitiven Verzerrungen. Die Überschätzung des Selbst wird dabei im Zusammenhang mit Selbstregulation und Selbstschutz gegen Stress und Gefahr gesehen. Ein Arzt, der aufgrund hoher Arbeitsbelastung trotz persönlicher Einstellung hygienisches Verhalten vernachlässigt, überschätzt sich womöglich, um die Diskrepanz zwischen Einstellung und Verhalten zu regulieren. Im Umgang mit Diskrepanzen neigt man zudem dazu, widersprüchliche Informationen zu ignorieren, was ebenfalls zu Überschätzungen führen kann. Zudem könnte ein weiterer Effekt eine Rolle spielen: Einschätzungen mit relativ hoher Schwierigkeit gehen mit stärkeren Überschätzungen einher. Tatsächlich ist die Selbsteinschätzung des eigenen hygienischen Verhaltens weitaus schwieriger als auf den ersten Blick anzunehmen, und auch die häufig als einfach eingeschätzte Händehygiene ist diesbezüglich offenbar schwieriger als angenommen. Darauf weisen auch Wissenslücken zu den KRINKO- und WHO-Empfehlungen hin. Welche Konsequenzen können solche Selbstüberschätzungen haben?
„Die Selbstüberschätzung tötet den Erfolg im Keim“
„Die Selbstüberschätzung tötet den Erfolg im Keim“ sagte Otto von Bismarck 1895 in einer Zeit, zu der Ignaz Semmelweis und Max von Pettenkofer die Bedeutung der Hygiene schon erkannt hatten, in der ein Zusammenhang zwischen Selbstüberschätzung und Händehygiene-Compliance jedoch noch nicht bekannt war. Bismarck wusste also noch nicht, wie treffend sein Satz dereinst sein würde: Die Selbstüberschätzung der eigenen Händehygiene-Compliance tötet nicht den Keim, respektive Mikroorganismen, sondern unterläuft den erfolgreichen Kampf gegen ebendiesen. Wer sich selbst als ausreichend kompetent, fähig und besser als andere ansieht, der wird keine Notwendigkeit und Motivation zum Lernen, Optimieren und Reflektieren spüren und wahrnehmen. Zudem ist es denkbar, dass Fehler in der Händehygiene aufgrund der Selbstüberschätzung nicht erkannt werden und ein falsches Gefühl von Kompetenz („Mastery“) auftritt. Dies kann dazu führen, dass bei der bewerteten Tätigkeit weniger kognitive Ressourcen genutzt werden als notwendig wäre. Wie stark Selbstüberschätzungseffekte zu erhöhten Risiken führen, ist auch aus anderen Bereichen in Studien zu riskantem Fahrverhalten, zur Unterschätzung gesundheitsbezogener Risiken und zu wirtschaftlichen Fehlentscheidungen zu erkennen. Wie ist damit umzugehen?
Einen Aha-Effekt erzeugen
Wer keine Probleme und Herausforderungen sieht, der wird sein Verhalten nicht verändern. Daher ist die Kommunikation über Selbstüberschätzungseffekte ein zentrales Mittel, um mit diesen Effekten konstruktiv umzugehen. Aus unserer klinischen Erfahrung sind belegbare Fakten und Daten essenziell, um Selbstreflexion anzustoßen. Die Präsentation bzw. Spiegelung von Diskrepanzen zwischen Fremd- und Selbstwahrnehmung (vgl. Abb.) führt bei der Klinikbelegschaft in der Regel zu einem überraschten „Aha-Effekt“, der einen Moment der Selbstreflexion schaffen kann („Teachable moment“). Erst die Wahrnehmung eines Problems führt zu einer Lösungssuche, der anschließend eine Verhaltensveränderung folgt. Um das Lernen von Beginn an zu unterstützen und eine Feedbackkultur zu fördern, ist es hilfreich, dies schon im Studium zu etablieren. Dabei ist es wichtig, über das häufige Auftreten von kognitiven Verzerrungen zu sprechen (Normalisierung), um Schuld- und Schamgefühlen vorzubeugen, die einer Offenheit und Bereitschaft zur Veränderung im Wege stehen können. Die Bereitschaft, hygienisches Wissen elaboriert zu lernen, beugt dann zudem wieder Selbstüberschätzungen vor, da bei größerem Wissen der Selbstüberschätzungseffekt geringer ist. Kurz: Die realistische Selbsteinschätzung fördert Compliance, führt zum Erfolg – und tötet den Keim!
Autoren:
J. Katrin Luz, M. Sc., Univ.-Prof. Dr. habil. Iris F. Chaberny, Institut für Hygiene, Krankenhaushygiene und Umweltmedizin, Zentrum für Infektionsmedizin (ZINF), Universitätsklinikum Leipzig und Prof. Dr. phil. Dipl.‑Psych. Thomas von Lengerke, Forschungs- und Lehreinheit Medizinische Psychologie, Zentrum Öffentliche Gesundheitspflege, Medizinische Hochschule Hannover (MHH)
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