Innovationsstandort Deutschland ausgebremst
Medizintechnik: Europäische Medizinprodukteverordnung bremst Innovationsstandort Deutschland
Die Sicherheit von Patienten ist das oberste Ziel der Medizin und Medizintechnik. Um diese zu erhöhen, wurde 2017 auf europäischer Ebene die „europäische Medizinprodukteverordnung“ (MDR) eingeführt.
Im Rahmen einer Veranstaltung des Fraunhofer-Leistungszentrums Translationale Medizintechnik unter Federführung des Fraunhofer-Instituts für Toxikologie und Experimentelle Medizin ITEM wurden die Herausforderungen und Folgen der MDR von Experten diskutiert. Die Branchenvertreter erwarten bedeutende negative Konsequenzen durch die Verordnung und schlagen konkrete Maßnahmen zur Überarbeitung der MDR vor.
Überarbeitung der „Medical Device Regulation“ gefordert
Die Sicherheit von Patienten ist das oberste Ziel der Medizin und Medizintechnik. Um diese zu erhöhen, wurde 2017 auf europäischer Ebene die „europäische Medizinprodukteverordnung“ (MDR) eingeführt. Im Rahmen einer Veranstaltung des Fraunhofer-Leistungszentrums Translationale Medizintechnik unter Federführung des Fraunhofer-Instituts für Toxikologie und Experimentelle Medizin ITEM wurden die Herausforderungen und Folgen der MDR von Experten, Vertretern kleiner und mittlerer Unternehmen, den Vorstandsvorsitzenden des akademischen Dachverbandes DGBMT, des Industrieverbandes BVMed sowie von Vertretern der acatech und der GMM im VDE diskutiert. Die Branchenvertreter erwarten bedeutende negative Konsequenzen durch die Verordnung und schlagen konkrete Maßnahmen zur Überarbeitung der MDR vor.
Ausgangspunkt der Veranstaltung war die Vorstellung erster Ergebnisse einer Marktbefragung von deloitte, mdr-competence und Fraunhofer, die ein aktuelles Bild zur Stimmung und Einschätzung absehbarer Konsequenzen der MDR zeichnet. „Eingeführt mit dem Ziel, die Patientensicherheit zu erhöhen, zeigt die MDR in ihrer jetzigen Form gravierende negative Effekte“, sagt Prof. Dr. Theodor Doll, Leiter des Fraunhofer-Leistungszentrums.
„Die Folgen sind einerseits aufkommende Unsicherheit der Patientenversorgung mit bestehenden Produkten, da diese teilweise aufgrund erneuter klinischer Bewertungen wieder vom Markt genommen werden, und andererseits die bereits eingetretene Innovationshemmung aufgrund zu hoher Eintrittshürden in der EU.“
Mit den aktuellen Daten differenziert die Studie die bisherigen Einschätzungen der Industrieverbände Spectaris und BVMed bei gleichbleibendem Tenor:
- Nur 15 % der Hersteller fühlen sich ausreichend über die Umsetzung der MDR informiert.
- 40 % der Firmen kündigen bereits auf dem Markt befindliche Medizinprodukte auf.
- 50 % sind der Meinung, dass Produkte oder Produktlinien aufgrund der erhöhten Anforderungen eingestellt werden müssen.
- Über 40 % erwarten eine signifikante Preissteigerung der Produkte.
- 65 % der Firmen sind gezwungen, Entwicklungsressourcen in die Regulatorik zu verlagern – auf Kosten der Innovationstätigkeit.
- 70% der Firmen sind verunsichert, ob die sie bislang betreuenden „Notified Bodies“ sie auch fristenwahrend weiter betreuen werden.
Die Folgen für die deutsche und europäische Medizintechnik sind massiv:
„Die Zahlen machen deutlich, dass die Verordnung mittelfristig zu einer Abwanderung in den FDA-geregelten amerikanischen Markt führen und den Innovationsstandort Deutschland zum Erliegen bringen wird“, erläutert Prof. Doll.
Zentraler Wirtschafts- und Arbeitsmarktfaktor
Als innovativer Motor der Branche gelten die kleinen und mittleren Unternehmen, die 93 % der MedTech-Unternehmen (KMU) ausmachen. Doch gerade sie spüren die negativen Wirkungen der MDR und stehen vor kaum überwindbaren Herausforderungen. „Die Kosten für die Entwicklung und die Entwicklungsdauer erhöhen sich stark, sodass die Perspektiven von Start-ups und KMU in der Branche sich deutlich verschlechtern“, weiß Prof. Prof. Dr. Thomas Lenarz, Vorstandsvorsitzender der DGBMT. „Auch für Investoren wird es deutlich unattraktiver, in innovative MedTech-Entwicklungen zu investieren.“
Gemeinsame Vorschläge zur Optimierung der MDR
Auf Grundlage der Marktbefragung erarbeiteten Wirtschaft, Verbände und Wissenschaft Vorschläge für konkrete Maßnahmen, die sowohl die aktuelle Situation entspannen als auch das Vertrauen in den Fortbestand des Innovationsstandorts Deutschland wiederherstellen können. Diese beinhalten unter anderem:
• Beschleunigung der Akkreditierung von Notified Bodies:
Die sogenannten Notified Bodies (benannte Stellen) – staatlich überwachte private Prüfstellen, die Hersteller begleiten und kontrollieren – müssen so schnell wie möglich wieder akkreditiert und somit in die Lage versetzt werden, ihre Arbeit wieder aufzunehmen. Für eine beschleunigte Akkreditierung der Notified Bodies muss die EU die Ausstattung der „Joint Assessment Teams“ (JAT) deutlich ausbauen, um die Handlungsfähigkeit der benannten Stellen für ihre eigentliche Aufgabe als verlässlicher Dienstleister für die Patientenversorger im zukünftig absehbaren Arbeitsvolumen darzustellen.
• Korrektur der Fristen für Hersteller:
Die Medizinprodukthersteller und -entwickler sind unmittelbar abhängig von der Handlungsfähigkeit der Notified Bodies. Durch deren verzögerte Akkreditierung sind gegenwärtige Fristsetzungen inkl. Übergangsfristen für Hersteller nicht haltbar und müssen neu terminiert werden – und zwar ab der Neubenennung (Handlungsfähigkeit) der dann existierenden Notified Bodies. Maß- und sinnvoll sind wenigstens 2,5 Jahre ab diesem Zeitpunkt, um nicht die Existenz der Hersteller über die absehbar weiter begrenzten Kapazitäten der Notified Bodies unverschuldet zu gefährden.
• Erarbeitung von Umsetzungshilfen:
Um im internationalen Wettbewerb bestehen zu können, bedürfen Start-ups, Kleinstunternehmen (bis 25 MA) und KMU eines Beratungs- und Unterstützungsprogramms, um weiterhin in der Lage zu sein, Medizinprodukte zu entwickeln. Ein solches Programm könnte ähnlich ausgestaltet sein wie die REACH-Korrekturen der EU in 2013.
• Weiterführung von Förderungen:
Die erfolgreiche Förderung des „Innovationsmotors Medizintechnik“ der vergangenen Jahre sollte angesichts der MDR-Situation verlängert bzw. ausgeweitet werden, um einen Innovationseinbruch und die Abwanderung in andere Märkte zu verhindern. Diese soll auch die schnelle Entwicklung neuer Prüfmethoden, den Datenaustausch zwischen Unternehmen und die Förderung erster klinischer, kostenintensiver Phasen umfassen.
• Sonderregelung für die Konformitätsbewertung:
Die MDR benötigt eine Sonderregelung für die Konformitätsbewertung hochinnovativer Produkte („Fast Track“) für seltene Krankheiten bzw. Anwendungen, um einen frühen Marktzugang zu ermöglichen.
• Augenmerk auf „Sondergruppen“:
Medizinprodukte für Kleinkinder, Kinder und andere Sondergruppen werden bereits von der Gesundheitswirtschaft vernachlässigt, weil die Zulassungskosten dem Return on Investment in diesen kleineren Marktsegmenten kritisch gegenüberstehen. Eine verbesserte MDR sollte dies nicht weiter verschärfen, sondern gegensteuern, um im Sinne der Patientensicherheit auch die Versorgungssituation dieser Gruppen zu verbessern.
• Vermeidung nicht nachvollziehbarer Folgen für bereits etablierte Produkte:
Insbesondere Produkte, die schon seit Jahrzehnten mit sehr geringer Anzahl „unerwünschter Vorkommnisse“ im Markt sind, dürfen nicht mittels einer pauschalisierten Forderung zur Durchführung „neuer klinischer Bewertungen/Prüfungen“ aus dem Markt gedrängt und die resultierende Patientenversorgung gefährdet werden.
• Vermeidung kartellähnlicher Strukturen:
Einzelne Institutionen in der Medizintechnikbranche dürfen nicht gleichzeitig als Prüfdienstleister, Notified Body, nationaler Berater (NAKI), Berater in der EU-Legislative und als akkreditierte Schulungsstelle auftreten. Die FDA-Regelungen, welche die Rolle vertikaler kartellähnlicher Strukturen beschränken, können hier als erstes Vorbild dienen.