Gesundheitspolitik

Physiotherapie für Schiefhals-Patienten: G-BA will langfristigen Heilmittelbedarf anerkennen

21.06.2016 -

Patienten mit Schiefhals (Torticollis spasmodicus), einer schmerzhaften und stigmatisierenden neurologisch bedingten Fehlhaltung des Halses, profitieren von einer Physiotherapie. Diese kann – ergänzend zur Standardbehandlung mit Botulinumtoxin-Injektionen und Medikamenten – den Therapieerfolg stabilisieren und Symptome sowie Schmerzen reduzieren. Um die Genehmigung einer langfristigen Physiotherapie-Verordnung mussten Dystonie-Patienten bisher jedoch meist lange mit den Krankenkassen ringen. Das soll sich jetzt ändern.

Laut Beschluss vom 19. Mai 2016 will der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) die Indikation Torticollis spasmodicus ab 2017 in die Indikationsliste für langfristigen Heilmittelbedarf aufnehmen. Voraussetzung dafür ist eine leitliniengerechte Therapie. „Für diesen Erfolg haben wir lange gekämpft“, sagt Ute Kühn, Vorsitzende der Deutschen Dystonie-Gesellschaft (DDG). „Er erspart vielen Dystonie-Patienten den langen und nervenaufreibenden Weg über Einzelfallentscheidungen.“ Die Deutsche Gesellschaft für Neurologie (DGN) begrüßt diese Entwicklung: „Der Beschluss des G-BA ist ein wichtiger Schritt, der erheblich dazu beiträgt, die Erkrankung erträglicher zu machen“, bestätigt Prof. Ralf Gold, Präsident der DGN.

Dystonien entstehen durch eine vom Gehirn ausgehende Fehlsteuerung der Skelettmuskulatur. Unwillkürliche, nicht beeinflussbare Muskelkontraktionen verbiegen Körperteile zu bizarren Fehlstellungen, bringen den Körper in abnorme Haltungen oder lösen sich wiederholende verzerrende Bewegungen aus. In Deutschland gibt es mehr als 160.000 Betroffene. Sie leiden zum Beispiel unter unkontrolliertem Augenblinzeln (Blepharospasmus), Verkrampfungen der Hand beim Schreiben (Schreibkrampf), gepresstem oder verhauchtem Sprechen (Stimmbandkrampf), der sogenannten Musiker-Dystonie (Bewegungsstörung der kleinen Handmuskeln) oder generalisierten Dystonien, die den gesamten Körper befallen. Die häufigste Dystonie-Form ist der Schiefhals oder Torticollis spasmodicus, eine unwillkürliche Fehlhaltung des Kopfes.

An einer Dystonie erkrankt zu sein bedeutet lebenslange, oftmals erhebliche Einschränkungen der Lebensqualität, Schmerzen und Bewegungseinschränkungen. Dazu kommen oft enorme psychische Probleme durch die stigmatisierende, sichtbar entstellende Körperfehlhaltung.

Botulinumtoxin gegen überschießende Muskelaktivität

Dystonien sind nicht heilbar, behandeln kann man nur ihre Symptome. Die Therapie der Wahl sind Injektionen von Botulinumtoxin in die betroffenen Muskeln, um die überschießenden Muskelaktivitäten zu unterbrechen. Zusätzlich kann eine Medikation mit Anticholinergika, Baclofen, Benzodiazepinen oder L-Dopa bei Dopa-responsiver Dystonie die Beschwerden lindern. In schweren Fällen der Dystonie, die nicht ausreichend mit Botulinumtoxin behandelt werden können, ist die Tiefe Hirnstimulation eine sehr wirksame Therapieoption.

Zermürbendes Ringen um Physiotherapie-Verordnung

„Bei einigen Indikationen der Dystonie, ganz besonders aber bei Torticollis spasmodicus, trägt die zusätzliche Verordnung und Durchführung von Physiotherapie erheblich zur Verbesserung der Symptomatik und zur Schmerzreduktion bei“, betont Prof. Günther Deuschl von der DGN, Mitglied im Wissenschaftlichen Beirat der DDG. Die gezielte Muskelarbeit kann Verkrampfungen lösen und erträglicher machen. „Um einen anhaltenden Entspannungszustand zu erreichen, ist es allerdings wichtig, dass die Behandlung fortwährend erfolgt und nicht unterbrochen wird“, so Deuschl.

„Die Genehmigung dafür bei den Kassen zu bekommen ist aber immer wieder ein zermürbender Kampf“, ergänzt Ute Kühn. „Für Ärzte und Patienten ist es eine große Erleichterung, wenn sich das jetzt ändert.“ Die Vorsitzende der DDG e.V. hat sich als Patientenvertreterin beim G-BA, unterstützt vom Wissenschaftlichen Beirat der DDG, persönlich für die Aufnahme der Indikation Torticollis spasmodicus in die Indikationsliste für langfristigen Heilmittelbedarf engagiert. „Es gab viele intensive Gespräche“, sagt Kühn. „Letztlich konnten sich die Verantwortlichen des G-BA unseren fachlichen Argumenten nicht verschließen.“ Auch die Deutsche Gesellschaft für Neurologie begrüßt den Beschluss des G-BA: „Es war ein langer Weg bis zur Erreichung des Ziels. Ich denke, das ist ein schöner und wichtiger Erfolg der DDG im Sinne unserer Patienten. Wir hoffen, dass der G-BA künftig auch bei anderen Patientengruppen, bei denen Physiotherapie einen gleichermaßen bewiesenen Therapieerfolg hat, diese langfristige Indikation anerkennt“, sagt Prof. Ralf Gold, Präsident der DGN. Der Beschluss gilt vorbehaltlich der Prüfung durch das BMG. Die Änderung der Richtlinie tritt am Tag nach Veröffentlichung im Bundesanzeiger, aber nicht vor dem 01. Januar 2017 in Kraft.

Jahrestagung der Deutschen Dystonie-Gesellschaft mit Verleihung des Oppenheim-Preises

Der Stellenwert der Physiotherapie bei Dystonie wird auch Thema bei der Jahrestagung der Deutschen Dystonie-Gesellschaft sein, die am 09. Juli 2016 im NH-Hotel München-Dornach stattfindet. Im Rahmen des Kongresses wird der mit 5.000 Euro dotierte Oppenheim-Preis der DDG vergeben. Der diesjährige Preisträger Dr. Aloysius Domingo, philippinischer Gastforscher am Institut für Neurogenetik der Universität Lübeck, erhält die Auszeichnung für seine herausragende Forschung zum „x-linked dystonia-parkinsonism“, eine seltene Bewegungsstörung, die bisher nur auf den Philippinen vorgefunden werden konnte und fast ausschließlich Männer betrifft.

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