Geriatrische Patienten in der Versorgungspraxis
05.06.2012 -
Geriatrische Patienten in der Versorgungspraxis. Wir Menschen werden immer älter – die Lebenswartung hat global zugenommen. Mehr als die Hälfte der Mädchen, die heute geboren werden haben eine gute Chance, über 100 Jahre alt zu werden. Obwohl es in der Bevölkerung zunehmend ältere Menschen gibt, ist der Lebensabschnitt „Alter“ noch immer negativ besetzt. Die Angst vor körperlichen Gebrechen, Demenz und Pflegebedürftigkeit spricht dafür. Geriatrische Patienten stellen die medizinische Versorgungspraxis vor besondere Herausforderungen. Die Betroffenen haben komplexe Krankheitsbilder, sind multimorbide, in ihrer körperlichen und psychischen Funktionsfähigkeit eingeschränkt. Oft liegen die Behandlungsziele des Arztes weit von dem entfernt, was Betroffene und Angehörige sich zum Ziel setzen. Die Therapie des Diabetes mellitus wird durch altersbedingte Gegebenheiten erschwert.
Der geriatrische Patient erfordert Aufmerksamkeit
„Alt werden“ ist ein normaler Prozess menschlicher Entwicklung. Altersbedingt lässt die Funktion der Sinnesorgane (Augenlinse, Innenohr, Durstgefühl) nach, die Nervenfunktionen (Reaktionszeit, Gedächtnis, Verarbeitung neuer Informationen) werden langsamer und das Immunsystem verliert die Fähigkeit, Infekte abzuwehren. Die Änderung der kognitiven Leistungsfähigkeit zeigt sich häufig mit Ängsten, Misstrauen, Feindseligkeit und Aggressivität. Neben der genetischen Veranlagung spielen äußere Einflüsse wie Ernährung, körperliche Fitness und geistig fordernde Aktivitäten eine wichtige Rolle. Soziale Faktoren wie Eintritt ins Rentenalter, Wegziehen der Kinder, Verlust des Partners, das Bewusstwerden von Abhängigkeit beeinflussen den individuellen Alterungsprozess. Nach WHO-Definition beginnt die Lebensphase „Alter“ mit 65 Jahren. Viele Menschen sind in diesem Alter heute gesund und nehmen aktiv am Leben teil. „Alt sein“ ist also nicht per se mit Krankheit, Gebrechen oder Einschränkung assoziiert.
Waren es früher Infekte oder Unfälle sind es gegenwärtig eher chronische Erkrankungen, die eine medizinische Behandlung erfordern. An der Spitze liegen Erkrankungen des Stoffwechsel-, Herz-, Kreislaufsystems (wie Diabetes, KHK usw.), Tumorleiden und Störungen im Bewegungsapparat. Der geriatrische Patient lässt sich nicht allein nach Alter klassifizieren. Geriatrische Patienten sind biologisch ältere Patienten (meist über 70 Jahre), die aufgrund altersabhängiger Funktionseinschränkungen bei Erkrankungen akut gefährdet sind und zur Multimorbidität neigen. Es besteht ein erhöhter rehabilitativer, somatopsychischer und psychosozialer Handlungsbedarf. Zu der Erkrankung selbst kommen Beeinträchtigungen wie fehlende/abnehmende Mobilität, eingeschränkte Sehfähigkeit, sensomotorische Defizite und Verlust der geistigen Fähigkeiten hinzu. In der Geriatrie wird von sog. „geriatric giants“ oder den „vier Is“ bzw. „sechs Is“ gesprochen:
- Immobilität (Bewegungseinschränkung)
- Inkontinenz (Harninkontinenz)
- Intellektueller Abbau (von Depression bis Demenz)
- Instabilität (erhöhte Sturzgefahr)
- Iatrogene Schäden (therapeutische Wechselwirkungen)
- Interaktion (zwischen Funktionsstörungen und der Erkrankung)
Im Vergleich zu jüngeren Betroffenen ist die Zielsetzung der medizinischen Behandlung bei geriatrischen Patienten anders gewichtet. Der Erhalt von Lebensqualität – auch definiert über Zufriedenheit, Selbstständigkeit, Alltagsmobilität, Schmerzfreiheit, Linderung körperlicher Beschwerden – steht bei älteren Menschen und ihren Angehörigen im Vordergrund. Hier können Ziele bei betroffenen Patienten und behandelnden Ärzten stark auseinander klaffen.
Die medizinische Versorgung ist eine Herausforderung
Ältere Patienten sind nicht grundsätzlich schwierig, sondern so verschieden wie andere Individuen auch. Dabei gibt es mobilere Patienten oder Betroffene mit höherem kognitiven Niveau sowie betagte Patienten, bei denen eine Reihe von Störungen vorliegen. Erfahrungsgemäß gibt es die meisten Probleme mit Patienten, die somatopsychisch und sozial eingeschränkt sind. In der niedergelassenen Arztpraxis betrifft das vor allem:
- Menschen, die mit dem Prozess des Altwerdens nicht umgehen können
- multimorbide Patienten, die allein sind und in ihren Wohnungen leben möchten, trotz sozialer Isolierung
- Bewohner des Altenheims, die den Umzug aus der gewohnten Umgebung nicht verkraftet haben
- pflegebedürftige Patienten mit Angehörigen, die überfordert sind
- in der Betreuung lebende Betroffene mit Pflegediensten/Pflegepersonal, das unzureichend ausgebildet ist und speziell angeleitet werden muss
- medizinische Entscheidungen, die von Pflegekräften (seltener von Familienmitgliedern) in ihrer Notwendigkeit angezweifelt werden.
Wichtig ist, dass der behandelnde Arzt neben der Therapie Verständnis für den älteren Patienten und seine individuellen Belange entwickelt, sich an „konkret machbaren“ Zielen orientiert, betreuende Personen (Angehörige, Pflegekräfte etc.) und kooperierende ärztliche Kollegen in den Behandlungsprozess mit einbezieht. Oftmals unterschätzt wird die Rolle von Hausbesuchen beim Erkrankten, der sich in seiner gewohnten Umgebung sicher fühlt. Ziel aller Bemühungen sollte es sein, möglichst viel an Eigenständigkeit in der Lebensführung zu erhalten und akute Komplikationen zu mindern.
Beim Diabetes im Alter gibt es Besonderheiten
Die Vermeidung akuter Probleme, das Hinauszögern diabetischer Spätfolgen und die Güte der Stoffwechsellage liegen im Fokus der Mediziner, die Patienten mit Diabetes mellitus behandeln. Nach Empfehlungen der Fachgesellschaften (DDG, ADA usw.) soll der HbA1c- Wert unter 7 % liegen, um das Risiko für Komplikationen zu reduzieren – ein Ziel, dass bei geriatrischen Patienten mit Diabetes nur als Richtwert verstanden werden kann, da Faktoren wie Alter, Funktionsstatus, Lebenserwartung und Wohlbefinden von gleichrangiger Bedeutung sind (vgl. Leitlinien DGG). Wichtig für diese Patientenklientel ist, dass bei schweren Akuterkrankungen, diabetesbedingten Komplikationen und beeinflussbaren geriatrischen Syndromen eine strengere Blutglukose- Einstellung angestrebt werden muss. Unstrittig ist der direkte Zusammenhang zwischen Diabetes und geriatrischen Syndromen.
Mehr als 50 % der Frauen und etwa 10 % der Männer mit Diabetes leiden unter Harninkontinenz, Demenzen treten bei älteren Diabetikern im Vergleich zu Nicht-Betroffenen häufiger auf, depressive Ältere haben eine schlechtere Compliance und Diabetes ist ein Risikofaktor für Dekubitus. Auch Patienten in höherem Lebensalter sollten vom breiten Therapiespektrum in der Diabetesbehandlung profitieren, vorausgesetzt sie können es leisten (kognitiv, motorisch) und haben die notwendige soziale Unterstützung im Hintergrund. Das neueste Messgerät oder eine komplizierte Insulintherapie muss dabei nicht immer erstes Mittel der Wahl sein. Entscheidend ist, dass Behandlungsziele in Abstimmung mit Patienten, Angehörigen und Ärzten gemeinsam getroffen werden. Der Fokus sollte auf Erhalt der Lebensqualität und auf behinderungsfreie Lebenszeit liegen, ohne den Betroffenen mit der Behandlung zu überfordern. Der Hausarzt hat eine zentral koordinierende Funktion als Mittler zwischen Patient und behandelnden Ärzten, aber auch wenn es darum geht den Betroffenen zu erklären, warum die Betreuung durch Pflegekräfte oder eine Heimunterbringung sinnvoll ist.