Nochmal mit Gefühl - Wie kann ein demenzsensibles Krankenhaus aussehen?
14.10.2019 -
Zum aktuellen Forschungsstand zur Architektur für Menschen mit Demenz im Akutkrankenhaus haben Prof. Dr. Gesine Marquardt und Dr. Kathrin Büter von der TU Dresden ein Handbuch vorgelegt. Es vermittelt Handlungsweisen, wie dieser umgesetzt werden kann und wendet sich sowohl an Architekten und Planer als auch an Bauherren, Betreiber und Nutzer von Krankenhäusern. Matthias Erler von medAmbiente sprach mit Co-Autorin Kathrin Büter.
Frau Büter, für Pflegeeinrichtungen, insbesondere Altenpflegeheime, ist der Umgang mit demenzkranken Bewohnern ein wesentlicher Bestandteil des Alltags. Entsprechend stark debattiert wird das Thema – und entsprechend stark beachtet wird es bei der Gestaltung und Planung solcher Einrichtungen. Hinken die Krankenhäuser hier noch hinterher?
Kathrin Büter: In den Krankenhäusern hat sich in den vergangenen Jahren viel getan – insbesondere dank der Robert-Bosch-Stiftung, die das Thema durch ihr Förderprogramm „Menschen mit Demenz im Akutkrankenhaus“ in den Blickpunkt gerückt und Krankenhäuser bei der Entwicklung und Erprobung von demenzsensiblen Konzepten unterstützt hat. Auch unser Buch ist mithilfe einer Förderung dieser Stiftung entstanden. Im direkten Vergleich mit Altenpflegeeinrichtungen kann man jedoch sagen, dass der Handlungsbedarf in Krankenhäusern höher ist und sich die Konzepte noch stärker etablieren müssen.
Welche krankenhausspezifischen Handlungsfelder sehen Sie, in denen sich die Planung in Hinblick auf demenzkranke Menschen von denen in einem Altenpflegeheim unterscheidet?
Kathrin Büter: Akutkrankenhäuser unterscheiden sich insbesondere durch die kurze Verweildauer der Patienten von der stationären Altenpflege. Während Altenpflegeeinrichtungen als Wohnumfeld ausgelegt sind, steht in Krankenhäusern die medizinische Behandlung von Patienten aufgrund von akuten gesundheitlichen Problemen im Fokus. Dementsprechend sind Krankenhäuser durch andere (Raum-) Strukturen und organisatorische Abläufe gekennzeichnet. Die Krankenhausarchitektur muss hier an demenzsensible Pflegekonzepte angepasst werden.
Eine Übertragbarkeit aus der Welt der stationären Pflege scheint dann wohl nur bedingt zu bestehen?
Kathrin Büter: Ein Beispiel, das die Grenzen der Übertragbarkeit von Ansätzen aus der stationären Altenpflege aufzeigt, ist das Thema der Wohnlichkeit. Menschen mit Demenz leben ein Stück weit in ihrer Vergangenheit. Vertraute und gewohnte Elemente geben ihnen Struktur und Halt. Im Kontext der stationären Altenpflege orientieren sich Einrichtungen für Menschen mit Demenz daher am Prinzip der Häuslichkeit. Jegliche institutionelle Anmutung wird hier vermieden. So soll ein möglichst hohes Maß an Normalität und ein Gefühl des Zuhause-Seins vermittelt werden. Gestalterisch wird das Thema der Vertrautheit dabei oftmals mit Ausstattungsgegenständen oder Möbeln gleichgesetzt, die den Bewohnern aus früheren Zeiten bekannt sind. Die Bewohner können auch meist persönliches Mobiliar mitbringen. Dies ist zum einen im Krankenhaus natürlich nicht möglich. Eine wohnliche Atmosphäre ist in Krankenhäusern, die durch medizinische Abläufe geprägt sind, nur eingeschränkt umsetzbar. Zum anderen birgt der Ansatz von stereotypen Gestaltungselementen die Gefahr einer Stigmatisierung der Patientengruppe. Patienten mit Demenz sind häufig auf regulären Stationen, insbesondere in Fachbereichen der inneren Medizin und der Chirurgie zu finden. Die Heterogenität der Patientengruppe ist hier sehr hoch und es besteht die Herausforderung, eine Gestaltungssprache und Ästhetik zu wählen, die viele Patienten, ob mit oder ohne Demenz, ob alt oder jung, als ansprechend empfinden. So können viele Nutzer, von einer Umgebung, die räumlich und visuell gut erfassbar ist, Sicherheit vermittelt sowie Wohlbefinden und Genesung fördert, profitieren.
Sie arbeiten in Ihrem Buch „Demenzsensible Krankenhausbauten“ mit verschiedenen „Personas“, sprich typmäßigen Darstellungen von Menschen mit jeweils eigenen Bedürfniskombinationen. Könnten Sie einmal näher erläutern?
Kathrin Büter: Die Methodik der Personas wird verwendet, um die Bedürfnisse einer Zielgruppe zu visualisieren. Planende sollen sich dadurch besser einfühlen und Produkte oder Dienstleistungen zielgruppengerecht gestalten können. In unserem Buch stellen wir fünf Personas, also fiktive Patienten mit Demenz, vor. Für jede Person gibt es einen Steckbrief mit persönlichen Informationen zu Alter, Lebenshintergrund, Hobbies und Interessen. Zudem werden medizinische Grunddaten abgebildet: Warum ist die Person im Krankenhaus? Welche körperlichen Einschränkungen bestehen, z. B. benötigt sie eine Brille oder Gehilfe? Wie stark sind einzelne demenzielle Symptome ausgeprägt? Des Weiteren wird in einem dazugehörigen Szenario erzählt, wie sich die Person in einer bestimmten Situation während des Krankenhausaufenthalts, z. B. bei der Einweisung über die Notaufnahme, fühlt und verhält. Mithilfe der Personas und Szenarien sollen die Planenden dabei unterstützt werden, die Menschen hinter dem Begriff der Patienten zu erkennen und eine bedürfnisgerechte Architektur zu entwerfen. Die Personas können außerdem als Werkzeug genutzt werden, um architektonische Konzepte während des Planungsprozesses zu überprüfen und zu optimieren. Die Personas sollen aber vor allem auch zeigen, wie verschieden Menschen mit Demenz sind.
Stellen Sie uns bitte einmal eine dieser Personas vor?
Kathrin Büter: Da wäre zum Beispiel Ursula Meyer. Sie ist 84 Jahre alt und hat eine weit fortgeschrittene Demenz. Ursula leidet unter Wahnvorstellungen und zeigt eine starke Unruhe, wenn sie alleine in ihrem Patientenzimmer ist. Soziale Teilhabe, die Interaktion mit Pflegekräften und persönliche Zuwendung vermitteln ihr Sicherheit, geben ihr Orientierung und beruhigen sie.
Vielleicht noch eine weitere Persona?
Kathrin Büter: Im Gegensatz dazu steht Peter Bergmann, erst 58 Jahre alt, im frühen Demenzstadium. Er ist leidenschaftlicher Motorradfahrer aus Hamburg, der offen mit seiner Erkrankung umgeht und noch weitgehend selbstständig lebt. Diese Selbstständigkeit gilt es weiter zu fördern. Er benötigt lediglich kleinere Hilfestellungen bei der Orientierung. Auf diese verschiedenen Bedürfnisse sowohl von Ursula als auch Peter muss und kann die Architektur reagieren.
Dann lassen Sie uns einmal ein Krankenhaus virtualiter betreten. Es fängt an mit dem Eingangsbereich. Was wäre hier aus Ihrer Sicht wichtig?
Kathrin Büter: Es ist wichtig, die Situation des Ankommens möglichst stressfrei zu gestalten. Im Eingangsbereich sollte daher die Anmeldung mit einer Ansprechperson direkt sichtbar sein. Eine Sitzgelegenheit in ruhiger Lage, von der aus man sich einen Überblick schaffen und sich langsam mit der neuen räumlichen Situation vertraut machen kann, ist hilfreich. Viele Patienten mit Demenz werden allerdings über die Notaufnahme ins Krankenhaus eingewiesen. Dies stellt natürlich immer eine besonders belastende Situation dar. In unseren Forschungen wurde das lange Warten innerhalb der Notaufnahmen als größter Knackpunkt identifiziert. Bei Patienten mit Demenz, den Angehörigen und auch Krankenhäusern bestand der Wunsch nach einem eigenen, ruhigen und abgeschirmten Wartebereich für demenzerkrankte Patienten in den Notaufnahmen.
Wer an Demenz erkrankt ist, wird nicht unbegleitet ins Krankenhaus kommen – ein Orientierungssystem müsste vermutlich nicht an seine Bedürfnisse angepasst werden?
Kathrin Büter: Patienten mit Demenz mögen sich je nach Stadium ihrer Erkrankung seltener unbegleitet innerhalb des Gesamtgebäudes bewegen, dennoch müssen Orientierungssysteme vorhanden sein um ihre Selbstständigkeit zu fördern. Dazu sind Orientierungssysteme in unterschiedlichen Maßstäben erforderlich. Diese müssen den Patienten nicht nur den Weg im Gebäude leiten, sondern sie auch dabei unterstützen, ihr Zimmer auf der Station oder ihren Schrank oder ihr Bett im Mehrbettzimmer zu finden.
Voraussetzung für die Wirksamkeit eines Leitsystems ist jedoch immer die Umsetzung einer klar gegliederten Grundrissstruktur. Leitsysteme sind daher immer ganzheitlich zu entwickeln.
Gehen wir weiter auf Station. Hier sprechen Sie zum Beispiel von räumlichen Ankerpunkten?
Kathrin Büter: Räumliche Ankerpunkte sind Orte mit einem hohen Wiedererkennungswert und einer hohen Bedeutung für die Patienten. Sie spielen für die Orientierungsfähigkeit und die Aktivität der Patienten eine zentrale Rolle. Ankerpunkte verfügen über besondere soziale und gestalterische Qualitäten. Einen wesentlichen Ankerpunkt einer Krankenhausstation kann beispielsweise der Aufenthaltsraum darstellen. Dies wird durch eine zentrale Lage, eine unverwechselbare Gestaltung und die akustische Wahrnehmbarkeit des Raumes erreicht. Zudem ist die ständige Anwesenheit von anderen Personen an einem Ort ein wichtiges Orientierungsmerkmal für Menschen mit Demenz. Durch die Anbindung des Aufenthaltsraums an z. B. den Pflegestützpunkt entsteht ein intensiv genutzter Ort mit einer starken räumlichen Bedeutung, an dem sich die Patienten orientieren können und gern aufhalten.
In einem Praxisbeispiel stellen Sie in dem Buch dar, wie sich Aktivitätsmuster und das Raumnutzungsverhalten verändern, wenn bestimmte Umgestaltungen erfolgt sind. Geben Sie uns ein paar Beispiele für wünschenswerte Änderungen dieser Art – und welche Maßnahmen diese bewirkt haben?
Kathrin Büter: Auf einer Krankenhausstation haben wir verschiedene architektonische Maßnahmen umgesetzt, wie ein neues Orientierungssystem oder die Umgestaltung von Patientenzimmern. Auch einen räumlichen Ankerpunkt haben wir geschaffen, indem wir einen kleinen Aufenthaltsbereich direkt gegenüber vom Pflegestützpunkt gestaltet und diesen mit verschiedenen Beschäftigungselementen ausgestattet haben. Dies hat dazu geführt, dass die Patienten signifikant mehr Zeit außerhalb ihres Zimmers verbracht haben. Sie waren länger und in vielfältigere Aktivitäten eingebunden. Auch die Interaktionen zwischen den Patienten und den Pflegekräften konnten gesteigert werden. Während eines Krankenhausaufenthalts aktiv zu bleiben ist wesentlich, um die körperlichen und kognitiven Fähigkeiten der Patienten erhalten zu können. Darüber hinaus verringerte sich das Stress- und Belastungsempfinden der Pflegekräfte und die Arbeitszufriedenheit stieg. Dies war unter anderem dadurch begründet, dass die Pflegekräfte nun unruhige Patienten in dem neuen Aufenthaltsbereich besser im Blick behalten und ihnen Beschäftigungselemente anbieten konnten. Das Praxisprojekt hat somit gezeigt, dass schon kleine bauliche und gestalterische Maßnahmen eine große Wirkung haben – nicht nur auf die Patienten, sondern auch auf die Pflegekräfte.
All das bedarf natürlich der Einbeziehung vieler Parteien im Planungsprozess?
Kathrin Büter: Möglichst frühzeitig, am besten schon in der Bedarfsplanung, sollten die Beteiligten aus den verschiedenen Fachdisziplinen, wie Medizin, Pflege und Krankenhausmanagement sowie Architektur, (technische) Fachplanung und der Aufsichtsbehörde an einen Tisch gebracht werden. Nur so können allen wichtigen Prozesse und Aspekte baulich aufeinander abgestimmt werden. Auch die Einbindung der Nutzer ist wesentlich, denn jedes Bauvorhaben ist anders und zeichnet sich durch spezifische Anforderungen aus. Auch kann mehr Akzeptanz für Veränderungsprozesse erreicht werden, wenn Nutzer Planungsprozesse begleiten und mitgestalten. Und schließlich wäre es wünschenswert, derartige Projekte zu evaluieren, um aus dem Gebauten lernen zu können. Am Ende ist natürlich das Geld ein entscheidender Faktor. Inwieweit Maßnahmen demenzsensibler Architektur zusätzliche Baukosten verursachen, ist von der Entwurfsplanung abhängig. Demenzsensible Architektur muss nicht teurer sein und sollte keinen Luxus darstellen. Vielmehr sollte sie Krankenhausträger wie auch Architektinnen und Architekten dazu anregen, Krankenhausgebäude neu zu denken und zum Nutzen aller Patienten bedürfnisgerecht und menschlich zu planen.
Demenzsensible Krankenhausbauten
Das Handbuch „Demenzsensible Krankenhausbauten“ von Kathrin Büter und Gesine Marquardt fasst den aktuellen Forschungsstand zur Architektur für Menschen mit Demenz im Akutkrankenhaus zusammen. Es vermittelt Handlungsweisen, wie dieser umgesetzt werden kann und wendet sich sowohl an Architekten und Planer als auch an Bauherren, Betreiber und Nutzer von Krankenhäusern. Dabei geben die Autorinnen keine allgemeingültige Lösungsansätze vor, sondern liefern Anregungen für kreative und interdisziplinäre Planungsprozesse am jeweiligen Objekt. Planungsverantwortliche in den Krankenhäusern und Architekten erhalten eine Einführung in das Krankheitsbild und darauf aufbauend einen breiten Überblick über demenzsensible Gestaltungsparameter sowie zahlreiche Praxisbeispiele. Diese reichen von Lösungen im einzelnen Patientenzimmer über die allgemeinen Stationen bis hin zur Notaufnahme. Das Buch zeigt, dass die demenzsensible Gestaltung in ansprechendem und zeitgemäßem Design eingebracht werden kann. Von einer Umgebung, die räumlich und visuell gut erfassbar ist, Sicherheit vermittelt sowie Wohlbefinden und Genesung fördert, profitieren alle Menschen, die sich in der Ausnahmesituationen eines Krankenhausaufenthaltes befinden. Häufig bedarf es dazu weniger zusätzliche Investitionen als das zeitige Mitdenken relevanter Gestaltungsaspekte.
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