Konstruktiv genutzte Zäsur
Im Gespräch mit Prof. Dr. Matthias Zündel, Gründer des Zukunftscafés Pflege und Gesundheit
Ziel des Zukunftscafés Pflege und Gesundheit ist es, neue Ideen und Visionen für das Gesundheitssystem und die Pflege zu entwickeln. Zunächst wurden Expertinnen und Experten eingeladen, kurze Videos einzureichen. In einem zweiten Schritt sind diese Videos öffentlich im Netz zugänglich und können kommentiert werden. In einem dritten Schritt sollen dann zentrale Themen in Videokonferenzen mit Gesprächspartnern diskutiert werden. Danach werden die zentralen Ergebnisse über diese Plattform veröffentlicht. Matthias Erler von medAmbiente sprach mit Prof. Dr. Matthias Zündel, der das Projekt ins Leben gerufen hat.
Herr Prof. Zündel, das Zukunftscafé der Hochschule Bremen ist von Ihnen gegründet worden. Geben Sie uns zunächst einmal einen Überblick zum Anlass, der Grundidee und den Zielen des Projekts?
Matthias Zündel: Der Rahmen des Projektes ist der neu entstehende Gesundheitscampus, den ich als Beauftragter für Gesundheit und Pflege der Hochschule Bremen mit auf den Weg bringe. Meine Grundidee bei dem Projekt war es, die Coronapandemie, diese Ausnahmesituation im Gesundheitswesen, als Zäsur zu nutzen. Mir ging es darum, zu sehen, welche Chancen für es für Öffnungs- und Veränderungsprozesse gibt. So ein einschneidendes Erlebnis bietet ja auch Chancen für neue Reflexionsansätze – es eröffnen sich neue Möglichkeitsräume. Dafür haben wir Anfang April, also ganz zu Beginn der Pandemie, Experten aus den Bereichen Gesundheit und Pflege angeschrieben. Wir haben sie gebeten, sich das Szenario vorzustellen, dass sie im Herbst 2020 in einem Café sitzen und im Gespräch mit einer Freundin oder einem Freund auf die einigermaßen überstandene Krisensituation zurückblicken, ersten Lehren daraus ziehen und Visionen für eine Pflege und ein Gesundheitssystem der Zukunft entwickeln.
Das Projekt ist insgesamt sehr ambitioniert und thematisch umfassend aufgestellt – die Bereiche umfassen etwa Themen wie „Bildung“, „Management“, „Pflegekräfte“, „Wissenschaft“, etc. Wo liegt bislang der Schwerpunkt?
Matthias Zündel: Mir war vor allem die Vielfalt der Perspektiven und Ansätze wichtig. Die Berufsgruppen, die hier zu Wort kommen, sprechen ja häufig nicht oder wenig miteinander – oder es geht dabei eher um pragmatische, organisatorische Fragen. Der Schwerpunkt lag für mich also vor allem darin, einen Austausch anzuregen. Die formulierten Ideen sind teils sehr konkret und betreffen Details, teils sind sie grundsätzlicher auf systemische Veränderungen ausgerichtet.
Es gibt bei dem Projekt drei Schritte...?
Matthias Zündel: Ja, der erste Schritt waren die Videobeiträge der Experten aus den verschiedenen Bereichen, die verschlagwortet und auf die Website zukunftscafe.net hochgeladen wurden. Diese Videos sind nun für jedermann öffentlich zugänglich. In einem zweiten Schritt wurde die Kommentierung der Videos freigeschaltet. Die Fachöffentlichkeit, aber auch jeder Interessierte kann die Ideen aus den Videos aufgreifen, weiterentwickeln oder kritisieren. In einem dritten Schritt werden wir Experten einladen, die mit uns über die verschiedenen Themen diskutieren. Diese Diskussionen werden gestreamt und können live verfolgt und kommentiert werden, so dass sich alle Beteiligten und auch neu hinzukommende Zuschauer trotz der aktuellen Hygienemaßregeln aktiv einbringen können. Abschließend werden wir die Ergebnisse zu einem Bremer Memorandum zusammenfassen und veröffentlichen.
Das Konzept wird offenbar sehr gut angenommen, wenn man sich so durch Ihre Seiten klickt?
Matthias Zündel: Es haben tatsächlich sehr viele Experten einen Videobeitrag geleistet, was mich sehr gefreut hat. Ich halte das für einen großen Erfolg, weil es für viele sicher auch eine Hemmschwelle war, sich mit der eigenen Handykamera aufzunehmen. Allerdings merken wir auch, dass das Videoformat eine Herausforderung mit sich bringt: Man muss sich zeitlich und gedanklich auf die einzelnen Beiträge ganz anders einlassen, das ist deutlich aufwendiger, als wenn man ein Thesenpapier überfliegt. Es ist aber auch eine spannende Erfahrung, weil die Ideen sehr persönlich rüberkommen.
Überhaupt straft die gute Beteiligung an diesem internetbasierenden Format doch die Vorstellung Lügen, dass die Pflege vor allem aus Digitalmuffeln besteht?
Matthias Zündel: Das lässt sich aus meiner Sicht schwer verallgemeinern. Zunächst haben wir eher diejenigen erreicht, die sowieso schon digital unterwegs sind. Dann ist es aber auch so, dass viele Pflegende privat vielleicht schon Vieles digital machen, sich in der Arbeitswelt damit aber schwertun. Es gibt ja viele Einrichtungen, in denen die Dokumentation immer noch analog abläuft. Der Digitalisierungsstau in dem Bereich hat sicher auch damit zu tun, dass die Pflege in vielen Bereichen staatlich sehr reguliert ist und auch der Datenschutz ein großes Thema ist. Insgesamt ist die Digitalisierung aus meiner Sicht auf jeden Fall weiterhin ein großes Thema für die Zukunft, also wenn es z. B. um die Entwicklung von Apps oder Smart Homes für pflegebedürftige Menschen geht.
Nicole Westig von der FDP-Bundestagsfraktion sagte in einem der jüngsten Videobeiträge, dass die Corona-Krise u. a. die Digitalisierung mit ihren Vorteilen befeuert. Sie schaffe wieder mehr Zeit für Zuwendung. Welche Lehren werden noch aus dieser Pandemie gezogen?
Matthias Zündel: Ich denke auch, dass die Pandemie das Thema der Digitalisierung in der Pflege, aber auch in der Arbeitswelt allgemein nach oben gespült hat. Ob eine Digitalisierung im Pflegebereich allerdings wirklich mit mehr Zeit und Raum für Zuwendung verbunden sein wird, bleibt abzuwarten. Das hat ja auch etwas mit der Personalbemessung und dem Aufgabenzuschnitt der Pflege zu tun. Auch bei der Frage, welche Lehren sich in anderen Bereichen ziehen lassen, bin ich noch vorsichtig. Wenn ich die aktuelle öffentliche und politische Debatte sehe, dann ist die Pflegethematik zwar präsent, entfaltet aber nicht die Dynamik, die man sich im Frühjahr vielleicht noch erhofft hätte.
Markus Mai, Präsident der Landespflegekammer Rheinland-Pfalz, meint in seinem Video, die Pandemie zeige, dass wirtschaftliche Interessen in der Pflege künftig als „nachrangig“ zu werten seien. Arbeitsbedingungen und Vergütung müssten im Vordergrund stehen. Geht die Debatte in diese Richtung...?
Matthias Zülnde: Herr Mai eröffnet mit dieser Äußerung eine zentrale berufspolitische Diskussion. Auch aus wissenschaftlicher Sicht wissen wir, dass die Fokussierung der letzten Jahre auf eine rein wirtschaftliche Perspektive mit vielen Herausforderungen verbunden war. Allerdings kann man „die Wirtschaft“ auch nicht per se verteufeln, das wird auch in den Beiträgen deutlich. Heinz Lohmann argumentiert z. B. dafür, dass die Pandemie auf keinen Fall zum Anlass genommen werden darf, wieder zu einer stärkeren staatlichen Steuerung zurückzukehren. Insgesamt wird es eben nicht darum gehen, alte Positionen zu zementieren, sondern die Debatten neu zu entfachen. Ich persönlich halte die Diskussion für sehr wünschenswert, wie eine qualitativ hochwertige Versorgung im akuten Bereich, in den Langzeitpflegeeinrichtungen und im ambulanten Bereich sichergestellt werden kann. Ich finde es wichtig, zu fragen, welche Kompetenzen dafür notwendig sind, welche Berufsgruppen in welcher Weise zusammenarbeiten und wie das Ganze vernünftig finanziert werden kann.
Wenn Sie eine Art Zwischenbilanz ziehen wollten – welche Ideen, Lösungen und Strategien zeichnen sich vor allem ab?
Matthias Zündel: Ich denke es ist noch zu früh, Bilanz zu ziehen. Es gibt Ideen, die häufig angesprochen werden, wie der Fachkräftemangel, die Personalstruktur und die Attraktivität des Pflegeberufs. Welche Rolle diese Fragen in der Zukunft spielen werden, ist eine andere Frage. Die Qualität des Projekts liegt vor allem auch in den Ideen der Projektbeteiligten, die einen zum Nachdenken bringen. In den Beiträgen sieht man die ganze Bandbreite: da gibt es Menschen, die etwas voranbringen wollen, es gibt die Visionäre, die Kritiker, die Mahner und die Desillusionierten. Persönlich fand ich z. B. die Idee von Daniel Auwermann spannend, dass es in Zukunft Slots für den Arztbesuch oder auch für elektive Operationen geben wird, welche die Patienten online einsehen und buchen können. Solche teilweise sehr konkreten Ideen haben mich persönlich sehr inspiriert.
Wie geht es jetzt weiter...?
Matthias Zündel: Im nächsten Schritt werden wir Experten zu Interviews einladen, die live gestreamt und kommentiert werden können. Da ergibt sich dann die Gelegenheit, angesprochene Themen aufzugreifen, miteinander zu verbinden und Entwicklungspotentiale zu identifizieren. Daneben bleibt die Website zukunftscafe.net weiterhin offen, so dass auch später Menschen damit arbeiten können. Die Beiträge können weiterhin verwendet werden, als Inspiration für Workshops in Unternehmen, für wissenschaftliche Seminare oder für politische Diskussionen. Dabei ist es allerdings wichtig zu sehen, dass die Videos jetzt schon teilweise als Zeitdokument zu lesen sind und eine Zeitspanne von ca. sechs Wochen aus den Anfängen der Pandemie abdecken. Die ersten Videos wurden sehr spontan direkt nach unserem Aufruf Anfang April produziert, als der Lockdown noch ganz frisch war, die letzten kamen dann Mitte Mai.
Wann wird voraussichtlich das geplante „Bremer Memorandum zur Zukunft der Pflege und des Gesundheitswesens“ veröffentlicht?
Matthias Zündel: Der Termin für die Veröffentlichung steht noch nicht fest, wir planen zunächst die Interviewrunden mit den Experten, die ja auch von deren Terminkalendern abhängen. Intern diskutieren wir auch noch, welche Form und welches Format das Memorandum haben wird. Das Format könnte ein Schriftstück oder aber auch ein Video sein, also eine konsequente Fortführung des Formats, mit dem wir in dem Projekt gearbeitet haben. Das ist eben auch das Spannende an dem Projekt, das wir die Inhalte Schritt für Schritt ergebnisoffen entwickeln.
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