Recht auf Naturerleben
Sinnes-Mustergarten für Menschen mit und ohne Demenz
Der Sinnes-Mustergarten ist ein Projekt der Alzheimer Gesellschaft Schleswig-Holstein, Selbsthilfe Demenz, des Kompetenzzentrums Demenz in Schleswig-Holstein und dem Haus am Klostergarten in Preetz. Eingeweiht wurde der Garten im August 2018 – der zweite Teilabschnitt im Juli 2019. medAmbiente sprach über das Konzept mit Anne Brandt vom Kompetenzzentrum Demenz in Schleswig-Holstein und Susanne Sielaff-Untiedt vom Haus am Klostergarten in Preetz.
Frau Brandt, den Sinnes-Mustergarten gibt es seit dem Spätsommer 2018. Was war das Ziel dieses Projekts?
Anne Brandt: Der Sinnes-Mustergarten hat zwei Schwerpunkte: Zum einen soll er zur Anregung der Sinne und zur Erholung im Grünen für die hier lebenden Menschen genutzt werden und zum anderen auch als Mustergarten, der anregt, Garten- und Naturangebote für Menschen mit und ohne Demenz aufzubauen. Die Nutzung des Mustergartens von Menschen mit und ohne Demenz soll die Lebensqualität und die Gesundheit durch das Erleben in der Natur fördern, die Selbstbestimmung und aktive Lebensweltgestaltung fördern sowie Sinneserlebnisse und Wohlfühlmomente schaffen. Außerdem soll der Garten Begegnungspunkt sein, der die soziale Teilhabe fördert und sozialer Isolation entgegenwirkt und es ermöglichen, die Vielfalt der Natur genießen zu können.
...und er dient als praktisches und anregendes Anschauungsobjekt...?
Anne Brandt: Ja. Als solches soll er Mut machen, solche Gärten aufzubauen und dafür die nötige fachliche und praktische Unterstützung dabei bieten, Naturerlebnisse für Menschen mit und ohne Demenz zu gestalten. Außerdem wollen wir das Thema Demenz in die Öffentlichkeit bringen und zu dessen Enttabuisierung beitragen.
Ende Juli 2019 kam ein weiterer Teilabschnitt hinzu – er trägt den Namen „Lebenswelt Natur“. Was hat dieser Teil, was der erste nicht hatte...?
Anne Brandt: Das gesamte Projekt heißt „Lebenswelt Natur“, da durch den Zugang zum einen die Vielfalt der Natur sichtbar, spürbar und erlebbar wird. Zum anderen ergibt sich daraus auch eine neue Lebenswelt für den Menschen. Ein Freiraum mit frischer Luft, Pflanzen und Begegnung. Im ersten Teilabschnitt wurde der Garten mit Hilfe einer Gartentherapeutin geplant und alle Beteiligten (Bewohner, Angehörige, Mitarbeitende, Ehrenamtliche) nach ihren Wünschen gefragt. Natur braucht Zeit zum Wachsen und so auch unser Garten. Es wurde viel Erde bewegt, gerodet und vorbereitet. Erste Pflanzen wurden in die Erde gesetzt. Im zweiten Teilabschnitt wurden Beete für unterschiedliche Sinne angelegt., z. B. ein Haptikbeet, ein essbares Beet, ein Blütenduftbeet und ein Teegarten. Ein Pavillon als zentraler Treffpunkt wurde errichtet. Der Garten wächst nun stetig weiter. Es sind z. B. Klangelemente, Fühlkästen, Aktionselemente dazu gekommen.
Die therapeutische Arbeit mit Gärten gibt es schon seit vielen Jahren – ein Garten ist generell etwas Wunderbares in jedem Alter sein. Was macht das Thema gerade im Zusammenhang mit Demenz interessant?
Anne Brandt: In der Wahrnehmung der Natur mit all meinen Sinnen gibt es kein Richtig oder Falsch. Ich kann hier so sein, wie ich bin, ohne Angst haben zu müssen, etwas falsch zu machen Nicht die Demenz steht im Vordergrund, sondern das Erleben, Erinnern und Entspannen in der Natur. Hier können besonders auch Menschen mit Demenz ein Stück Normalität und Selbstbestimmung erleben. Durch das Betrachten, das Riechen, betasten und auch das Schmecken werden Erinnerungen geweckt. Und wenn mir etwas einfällt, kann ich mein Wissen auch an andere weitergeben. Wir haben z. B. von einigen Menschen mit Demenz viel über die heimischen Kräuter gelernt, wie sie z. B. heißen oder zubereitet werden können. Wenn solche Erfahrungsschätze durch die Anregung der Sinne hervorgelockt werden können, gibt dies der Person Selbstvertrauen. Selbstbestimmt die Natur erleben zu können, einfach nur zu sein und die Natur auf sich wirken zu lassen, das ist Entspannung pur, die gleichzeitig Teilhabe am Leben schafft.
Sie haben mit einer Gartentherapeutin zusammengearbeitet, die die Wünsche der Beteiligten per Fragebogen gesammelt hat. Könnten Sie ein paar typische Ideen nennen, die auf diesen Wünschen basierten?
Anne Brandt: Das Schöne ist, dass alle Beteiligten befragt wurden. Bewohner und Bewohnerinnen, Angehörige und Mitarbeitende. Es gab viele schöne Wünsche, die wir auch versucht haben umzusetzen – etwa: Rosen aus dem Garten der Mutter in den Garten zu pflanzen, Naschecken (Himbeeren, Weintrauben, Johannisbeeren), eine Gedenkecke für Verstorbene, einen Wasserstein, viele Blühpflanzen, die zum Anschauen anregen – und Hochbeeten, so dass es etwas zum Säen und Ernten gibt.
Wie reagieren die Bewohner auf so einen Garten und seine Angebote?
Susanne Untiedt: Diesen Garten empfinden die Bewohner und Bewohnerinnen wirklich als Oase. Jeden Tag kann ich beobachten, wie die persönlichen Lieblingsecken im Garten aufgesucht werden. Besonders jetzt in der Coronazeit, ist der Garten auch ein sozialer Treffpunkt. Hier können sich Angehörige und Bewohner im sicheren Abstand draußen treffen. Und die Bewohner fühlen sich für ihren Garten verantwortlich Wir haben z. B. Patenschaften für das Gießen der Blumen auf jedem Wohnbereich. Die soziale Betreuung unseres Hauses bezieht den Garten sehr kreativ in die Beschäftigungsangebote mit ein. So wurden z. B. gemeinsam Himbeeren und Kräuter geerntet und auch verarbeitet. Der Garten gibt unseren Bewohnern Sinnesanregungen, Freiraum, Abwechslung und Entspannung zugleich. Wir sind sehr froh, dass wir diesen Garten haben. Die hier lebenden Menschen und auch die Angehörigen genießen ihren Garten sehr. Bei diesem schönen Wetter sehen unsere Bewohnerinnen und Bewohner so braungebrannt und erholt aus, als wären sie im Urlaub gewesen.
Auch für die Mitarbeiter ist ein so schöner Garten sicherlich ein wichtiger Faktor?
Susanne Untiedt: Ja das stimmt. Unserer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter nutzen den Garten auch als Erholungsraum. Sie sitzen in ihrer Pause hier und tauschen sich aus. Sie gehen aber auch mit den Bewohnern häufig in den Garten. Der Garten wird für Aktivierungs- und Beschäftigungsangebote mit einbezogen. Er gehört einfach dazu und bietet so schöne Impulse. Eine Mitarbeiterin hat z. B. vor kurzem sehr schöne Fotos vom Garten gemacht und diese werden dann in den Wohnbereichen aufgehängt. So kommt die Natur auch nach drinnen.
Der Muster-Demenzgarten hat ja sehr viel Aufmerksamkeit gerade auch außerhalb der Fachpresse erhalten. Hat er schon die Einrichtung oder Veränderung solcher Gärten andernorts inspiriert?
Anne Brandt: Die ersten Jahre galten dem Aufbau und der Ausgestaltung des Gartens. Dennoch konnten wir bereits Schulungen durchführen, die das Thema Naturerleben für Menschen mit und ohne Demenz zum Thema hatten. Die Führung durch den Garten, als fester Bestandteil der Schulung, gibt wichtige Impulse wie eine Gartengestaltung für Menschen mit und ohne Demenz aussehen kann und schafft Ideen, welche Elemente z. B . in der eigenen Einrichtung umgesetzt werden können. Wir planen regelmäßige Schulungen und Führungen für Interessierte. Dies konnten wir 2020 leider wegen der Coronakrise noch nicht umsetzten. Aber wir hoffen, dass wir 2021 damit starten können.
Wenn eine Einrichtung sich einen solchen Garten anlegt, wird ihn sicherlich mit einem speziell ausgebildeten Therapeuten am besten für seine Bewohner fruchtbar machen können?
Susanne Untiedt: Bereits jetzt finden erfolgreich vielfältige Aktionen und Angebote im Garten durch die soziale Betreuung des Hauses statt. Es wird z. B. gemeinsam gesät und geerntet oder Gegenstände, wie z. B. Insektenhotels für den Garten hergestellt. Der Garten regt auch Mitarbeitende an, kreative Angebote zu entwickeln. Menschen mit Demenz brauchen Helfende, die sich in die Bedürfnisse und Leistungsfähigkeiten einfühlen können. Dies kann durch therapeutische Fachkräfte erfolgen, aber auch durch geschulte Mitarbeiterinnen. Wir planen aber die Einstellung einer Gartentherapeutin, um noch verstärkt das Wissen um die Pflanzen und der Natur mit einfließen zu lassen. Denn wir können immer voneinander lernen und miteinander wachsen.
Was sind eigentlich Ihre wichtigsten Erfahrungen, die Sie seit Eröffnung des Muster-Demenz-Gartens gemacht haben?
Susanne Untiedt: Der Sinnesgarten bringt Menschen zusammen und schafft so einen wunderbaren Erlebnisraum, besonders für unsere Bewohner mit einer Demenz. Gerade in der Coronazeit ist er auch ein wichtiger sozialer Treffpunkt. Wir möchten nicht mehr ohne unseren Garten sein.
Anne Brandt: Wir hatten hier schon öfter auch Pressevertreter vor Ort, die über den Garten berichtet haben. Mich beeindruckt immer sehr, wie engagiert die Bewohnerinnen und Bewohner und die Angehörigen ihren Garten dann vorstellen und die Vorzüge erläutern. Jeder hat hier seine Lieblingsecken. Es ist so schön zu sehen, wir alle den Garten wirklich genießen und stolz auf ihn sind.
Vor kurzem wurde der Garten als offizielles Projekt der UN-Dekade Biologische Vielfalt im Rahmen eines Wettbewerbs ausgezeichnet. Hier geht es ja um biologische Vielfalt...?
Anne Brandt: Ja, über die Auszeichnung freuen wir uns sehr. Offiziell wird sie am 28.09.2020 überreicht. Verliehen wird sie vorbildlichen Projekten, die mit ihren Aktivitäten auf die Chancen aufmerksam machen, die die Natur mit ihrer biologischen Vielfalt für den sozialen Zusammenhalt bietet. Heimische Obst- und Beerensorten, alte Kräuter und Teepflanzen und Blumenbeete geben z. B. die Möglichkeit, die Vielfalt der Natur mit allen Sinnen zu erleben und zu genießen. In dem Garten darf geschaut, ausprobiert und erlebt werden Der Pavillon und die Schatten- oder Sonnenecken laden zum Kontakt ein. Sich gemeinsam um den Garten zu kümmern schafft Erfolgserlebnisse und sozialen Zusammenhalt. Gleichzeitig wird der Sinnes-Mustergarten ab 2021 verstärkt für Schulungen und Führungen zur Verfügung stehen und so interessierte Personen für die biologische Vielfalt und die Nutzung der „Lebenswelt Natur“ für Menschen mit und ohne Demenz sensibilisieren.
Planen Sie in nächster Zukunft weitere Vergrößerungen oder Veränderungen des Gartens?
Susanne Untiedt: Ein Fußtastpfad, der auch mit einem Rollstuhl benutzt werden kann, soll 2021 noch dazu kommen.
Anne Brandt: Und unser regelmäßiges Schulungsvorhaben wird hoffentlich auch 2021 umgesetzt werden können.
Projekt der UN-Dekade Biologische Vielfalt
Um die Lebensqualität von Menschen mit Demenz und ihren Angehörigen zu verbessern, braucht es Angebote und Strukturen, die sich an den Bedürfnissen der betroffenen Menschen orientieren. Diese Orientierung an den Lebenswelten von Personen mit einer Demenzerkrankung beinhaltet auch das Recht auf Naturerleben.
Diese Philosophie der Initiatoren wurde jüngst auch von den Vereinten Nationen anerkannt: Das Projekt „Der Garten als Lebenswelt - Ein Sinnes-Mustergarten für Menschen mit und ohne Demenz“ wurde als offizielles Projekt der UN-Dekade Biologische Vielfalt im Rahmen des Sonderwettbewerbs „Soziale Natur – Natur für alle“ ausgezeichnet. Die Auszeichnung wird vorbildlichen Projekten verliehen, die mit ihren Aktivitäten auf die Chancen aufmerksam machen, die die Natur mit ihrer biologischen Vielfalt für den sozialen Zusammenhalt bietet.
Die Vereinten Nationen haben die Jahre 2011 bis 2020 zur UN-Dekade für die biologische Vielfalt erklärt. Hintergrund ist ein kontinuierlicher Rückgang an Biodiversität in fast allen Ländern der Erde. Die Dekade soll die Bedeutung der Biodiversität für unser Leben bewusstmachen und Handeln anstoßen. Im Rahmen des Sonderwettbewerbs „Soziale Natur – Natur für alle“ zeichnet die UN-Dekade vorbildliche Projekte an der Schnittstelle von Natur und sozialen Fragen aus. Die Projekte lenken den Blick besonders auf die Chancen, die Natur und biologische Vielfalt für den sozialen Zusammenhalt bieten.
Ziel des Wettbewerbs ist es, gute Beispiele herauszustellen, diese öffentlich bekannt zu machen und Menschen anzuregen, eigene Projektideen zu entwickeln. Neben der offiziellen Urkunde und einem Auszeichnungsschild erhält das Projekt einen „Vielfalt-Baum“, der symbolisch für die Naturvielfalt steht. Das Projekt wird auf der Webseite der UN-Dekade in Deutschland unter www.undekade-biologischevielfalt.de vorgestellt.
Kontakt
Kompetenzzentrum Demenz in Schleswig - Holstein
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