Medizin & Technik

Weltweit erstes digitales Modell einer Krebszelle

02.07.2021 - Das Computermodell, federführend entwickelt von Forschenden der TU Graz, simuliert die zyklischen Veränderungen des Membranpotenzials einer Krebszelle am Beispiel des menschlichen Lungenadenokarzinoms und eröffnet völlig neue Wege in der Krebsforschung.

Computermodelle gehören seit vielen Jahren zu Standardwerkzeugen in der biomedizinischen Grundlagenforschung. Doch erst rund 70 Jahre nach der Erstveröffentlichung eines Ionenstrommodells einer Nervenzelle durch Hodgkin & Huxley im Jahr 1952, ist es Forschern der TU Graz unter Mitwirkung der Medizinischen Universität Graz und des Memorial Sloan Kettering Cancer Center in New York gelungen, das weltweit erste Krebszellmodell zu erarbeiten und damit ein „essentielles Werkzeug für die moderne Krebsforschung und Medikamentenentwicklung auf den Weg zu bringen“, freut sich Christian Baumgartner. Der Leiter des Instituts für Health Care Engineering mit Europaprüfstelle für Medizinprodukte der TU Graz ist Seniorautor der Publikation in PLoS Computational Biology, in der das digitale Modell vorgestellt wird.

Erregbare und nicht-erregbare Zellen

Digitale Zellmodelle fokussierten bisher auf erregbare Zellen wie etwa Nerven- oder Herzmuskelzellen und ermöglichen die Simulation elektrophysiologischer Vorgänge nicht nur auf zellulärer, sondern auch auf Gewebs- und Organebene. Diese Modelle werden zur Diagnoseunterstützung und Therapiebegleitung im klinischen Alltag bereits eingesetzt. Das internationale Forschungsteam rund um Baumgartner legte das Augenmerk nun erstmals auf die spezifischen elektrophysiologischen Eigenschaften nicht-erregbarer Krebszellen.

In erregbaren Zellen löst ein elektrischer Stimulus Aktionspotenziale aus. Das führt zu kurzzeitigen, Millisekunden dauernden elektrischen Potenzialänderungen an der Zellmembran, die „elektrische“ Informationen von Zelle zu Zelle weiterleiten. Durch diesen Mechanismus kommunizieren neuronale Netzwerke oder wird der Herzmuskel aktiviert, der infolge dessen kontrahiert. Aus experimentellen Untersuchungen ist bekannt, dass auch „nicht-erregbare“ Zellen charakteristische Potenzialschwankungen an der Zellmembran aufweisen. Im Vergleich zu erregbaren Zellen erfolgen die Potenzialänderungen aber sehr langsam und über den gesamten Zellzyklus hinweg, also über Stunden und Tage, und dienen als Signal für den Übergang zwischen den einzelnen Zellzyklusphasen“, erklärt Christian Baumgartner. Zusammen mit der stellvertretenden Institutsleiterin Theresa Rienmüller und der Doktorandin Sonja Langthaler verfolgte Christian Baumgartner als erster die Idee, ein Simulationsmodell dieser Mechanismen zu entwickeln.

Beispiel Lungentumor

Krankhafte Veränderungen der Zellmembranspannung, insbesondere während des Zellzyklus, sind für die Krebsentstehung und -progression von grundlegender Bedeutung. Sonja Langthaler geht ins Detail: „Ionenkanäle verbinden das Äußere mit dem Inneren einer Zelle. Sie ermöglichen den Austausch von Ionen wie Kalium, Calcium oder Natrium und regeln dadurch das Membranpotenzial. Änderungen in der Zusammensetzung der Ionenkanäle sowie ein verändertes funktionales Verhalten selbiger können Störungen in der Zellteilung zur Folge haben, möglicherweise sogar die Zelldifferenzierung beeinflussen und damit eine gesunde Zelle in eine karzinogene Zelle verwandeln.“

Für ihr digitales Krebszellenmodell wählte das Team das Beispiel der menschlichen Lungenadenokarzinom-Zelllinie A549. Das Computermodell simuliert die rhythmische Schwingung des Membranpotenzials während des Überganges zwischen den einzelnen Zellzyklusphasen und ermöglicht die Vorhersage, welche Membranpotenzialänderungen durch ein medikamentöses Ein- und Ausschalten ausgewählter Ionenkanälen verursacht werden. „Wir bekommen also Auskunft über die Auswirkungen gezielter Eingriffe auf die Krebszelle“, ergänzt Baumgartner.

Krebszellen im Wachstum „einfrieren“ oder zum Selbstmord anregen

Die Aktivität bestimmter Ionenkanäle kann zudem die Teilung krankhafter Zellen antreiben und damit das Tumorwachstum beschleunigen. Wenn man nun Ionenkanäle gezielt manipuliert, wie durch neue, erfolgsversprechende Wirkstoffe und Medikamente, kann man die Zellmembranspannung und damit das gesamte elektrophysiologische System sozusagen aus der Spur werfen. „Damit ließen sich Krebszellen in einer bestimmten Zellzyklusphase festhalten, aber auch vorzeitig in den Zelltod (Apoptose, Anm.) schicken. Man könnte Krebszellen quasi im Wachstum einfrieren oder zum Selbstmord anregen. Und genau solche Mechanismen lassen sich mithilfe von Modellen simulieren“. Baumgartner und sein Team sehen das erste digitale Krebszellenmodell als den Beginn umfassenderer Forschungen.

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