Hygiene

Antibiotika unter Kontrolle

17.11.2021 - Die Paracelsus Kliniken stellen im Rahmen einer Dissertation ihr Antibiotic Stewardship (ABS) standortübergreifend auf den Prüfstand.

Langfristiges Ziel ist es, Grundlagen für ein gemeinsames ABS mit objektiven Kriterien aufzubauen.

Der umsichtige Einsatz von Antibiotika spielt in Kliniken heute eine immer größere Rolle. Unter dem Begriff „Antibiotic Stewardship (ABS)” werden die Bemühungen und Maßnahmen zusammengefasst, die einer Verbesserung der Antibiotikaverordnungspraxis dienen. Grundlage sind die Empfehlungen zur Durchführung von ABS-Programmen in der deutschen S3-Leitlinie „Strategien zur Sicherung rationaler Antibiotika-Anwendung im Krankenhaus“ (AWMF-Registernummer 092/001). Auch an den Paracelsus Kliniken halten in diesem Zusammenhang viele Standorte Leitlinien zu perioperativen Antibiotika und Therapie ausgewählter Infektionen vor. Interdisziplinäre ABS-Teams vor Ort prüfen u.a. bei Visiten, wie die Leitlinien umgesetzt werden, werten Ergebnisse aus und zeigen, wo klinikweit noch nachgebessert werden kann. Der Erfolg ist groß: Mit konkreten Zahlen hinterlegt, lassen sich Abweichungen weitaus besser erkennen als in Einzelfällen. Das Prinzip, das bei einzelnen Kliniken funktioniert, soll jetzt erstmals auch klinikübergreifend für mehrere Standorte angewendet werden.

Joachim Peter Biniek, seit April 2020 bei Paracelsus und seit 2021 Weiterbildungsassistent am Zentralinstitut für Krankenhaushygiene und Umweltmedizin der Paracelsus Kliniken will das Thema – unterstützt von der Geschäftsführung – im Rahmen seiner Dissertation zum Dr. med. Krankenhaushygiene/Mikrobiologie angehen. Aufgabe der Studie unter dem Arbeitstitel „Harnwegsinfektionen und Septitiden in deutschen Krankenhäusern - eine multizentrische, retrospektive Kosten- und Nutzenanalyse der antibiotischen Therapie” ist zum einen eine rückblickende standortübergreifende Auswertung der antibiotischen Therapie hinsichtlich Indikation, verwendeten Substanzen und Dauer der Verordnung. Andererseits sollen Abweichungen von den ABS-Leitlinien und die Resistenzlage erkannt, Kosten und mögliche Einsparpotenziale durch gezielte Therapien ermittelt und bewertet werden. Die Studie könnte so zum Grundstein für ein gemeinsames ABS aller Paracelsus Kliniken mit übergreifenden Kriterien werden.

Häufige Erkrankungen im Fokus

Objekt der Untersuchung von Biniek sind zwei der häufigsten Krankheitsbilder in medizinischen Einrichtungen: Die Harnwegsinfektion und Sepsen jeder Art. Diese Krankheitsbilder sind auch in den Einrichtungen der Paracelsus Kliniken ein häufiger Einweisungs- und Behandlungsgrund. In den meisten Fällen lässt sich eine akute Infektion der ableitenden Harnwege erfolgreich therapieren, jedoch entwickelt sich die Erkrankung in einigen Fällen zu einer Urosepsis. Bundesweit liegt die Inzidenz dafür derzeit bei 158 Fällen je 100.000 Einwohnern und die Letalität ist mit 41,7% hoch. Auch die Paracelsus Kliniken sind damit – in unterschiedlichen Inzidenzen – an mehreren Standorten konfrontiert. Die erfolgreiche Behandlung beginnt sowohl beim rechtzeitigen Erkennen des Krankheitsbildes, als auch in der gezielten (antibiotischen) Therapie. „In der Therapie von Harnwegsinfektionen und Sepsen stationär aufgenommener Patienten spielen antibiotische Substanzen eine herausragende Rolle”, erklärt Joachim Peter Biniek. „Tatsache ist aber, dass Antibiotika in der ambulanten wie in der stationären Behandlung oft nicht korrekt angewendet werden. Die Verwendung von Leitlinien und Antibiotic Stewardship-Programmen könnten sowohl die Verbräuche von Antibiotika als auch die Resistenzentwicklungen verringern.” Die Prämisse bei der Sepsistherapie liegt in der schnellen und unmittelbaren Gabe geeigneter Antiinfektiva, um die Mortalität zu senken, Verweildauer und Beatmungszeit zu verkürzen und Schädigungen von Organsystemen zu vermeiden. Untersuchungen zeigen einerseits, dass Patienten in zentralen Notaufnahmen häufig falsch diagnostiziert werden und es zu einer unnötigen antibiotischen Therapie kommt. Andererseits wird die Diagnose Sepsis nicht selten auch falsch oder zu spät gestellt, sodass keine schnelle adäquate Therapie eingeleitet wird. Dies kann die Mortalität um bis zu 10% bedeuten. „Eine leitliniengerechte Indikation antibiotischer Substanzen, im Rahmen eines Antibiotic Stewardship Programms, trägt zur besseren Therapie und Verhinderung von unnötigen oder falsch indizierten Antibiotika bei. Letztendlich rettet sie Leben”, so Biniek.

Umfangreiche Daten auswerten

Um das Verbesserungspotenzial festzustellen, hat sich Joachim Peter Biniek einiges vorgenommen. Er will erstmals konzernübergreifend systematisch Behandlungen erfassen und auswerten. Basis sind zentrale Controlling Daten und Patientenakten von vier der größten Akutkliniken von Paracelsus in Langenhagen, Hemer, Bad Ems und Henstedt-Ulzburg, sowie entsprechende Laborbefunde der Kliniken. Konkret einbezogen sind rund 1.000 volljährige Patienten, die im Zeitraum vom 1. Januar 2019 bis 31. Dezember 2020 mit der Hauptdiagnose Sepsis oder Harnwegsinfekt stationär behandelt wurden. Selbstverständlich anonymisiert und unter genauer Beachtung des Datenschutzes will Biniek die antibiotische Therapie während des stationären Aufenthaltes begutachten und dabei die Anwendung von klinikinternen Leitlinien zur Antibiotikatherapie hinzuziehen. Die indikationsgerechte Verwendung von Substanzen, Dauer und Dosierung sollen geprüft, und auch hinsichtlich der Wirtschaftlichkeit der verwendeten Substanz untersucht werden. „Ich will sehen, wo Antibiosis zu lange gegeben wurde, wo sie zu früh abgesetzt wurde, oder wo die falsche Substanz eingesetzt wurde”, so der Doktorand. „Durch die Untersuchung langer Datenreihen kann ich dann mögliche regelhafte Abweichungen erkennen. Wir hatten bisher bei Paracelsus lokale Punktprävalenzerhebungen, bei denen in Stichproben Akten von Patienten herausgezogen und untersucht wurden. Damit konnten wir die Häufigkeit von klinisch relevanten Phänomenen näherungsweise nachvollziehen. Nun betrachten wir viele Kliniken und Langzeiteffekte und öffnen eine ganz neue Dimension der Compliance.” Bis zum Ende des Jahres will der Doktorand die Erhebung der Daten abgeschlossen haben und dann mit der Auswertung beginnen. Erste Ergebnisse werden im Oktober 2022 erwartet.

Perspektive für den ganzen Konzern

Die Arbeit von Bieniek birgt interessamte Optionen: Zum einem könnte die übergreifende Betrachtung der Daten auch für andere Indikationen zu einem regelhaften Instrument des Antibiotic Stewardship bei Paracelsus werden und die Standorte im Alltag wirksam unterstützen. Ideale Voraussetzung dazu ist eine „Big Data”-Lösung, um Patientendaten elektronisch in angemessener Zeit auswerten und zu einem ABS-Score formen zu können. Dieser wiederum könnte zu einem Benchmarking der Kliniken und Best-Pratice-Lösungen führen – mit Vorbildfunktion für die Branche. Bereits seit 2020 verfolgt Paracelsus das Ziel, seine ABS-Expertenteams standortübergreifend enger zusammenarbeiten zu lassen. Mit Ergebnissen aus regelmäßigen übergreifenden Untersuchungen, könnte hier ein wirkungsvolles ABS-Steuergremium für das gesamte Unternehmen entstehen. Vorstellbar wäre auch, eine übergreifende Betrachtung des Antibiotikagebrauchs als Instrument der Compliance auszubauen und im Rahmen eines Qualitäts-Audits ein eigenes ABS-Prüfsiegel zu vergeben. Ansätze dazu, den Untersuchungsrahmen größer zu ziehen, hat es bereits vor zehn Jahren gegeben, weiß Joachim Peter Biniek. „Nationale Prävalenzstudien zu Infektionen und Antibiotika-Anwendung in Krankenhäusern werden bereits seit 2011 vom European Centre for Disease Prevention an Control (ECDC) gefordert. Diese Daten sind wesentliche Grundlage zur Prävention der Infektionen und zur Verbesserung der Antibiotika-Therapie”, so Biniek. „Sie sind aber in erster Linie auf nosokomiale Infektionen ausgerichtet. Ambulante Infektionen, die im Krankenhaus behandelt werden, werden in aller Regel nicht berücksichtigt. Und gerade die wollen wir jetzt untersuchen.”

Autor: Priv.-Doz. Dr. Karolin Graf, kommissarische Leiterin des Zentralinstituts für Krankenhaushygiene der Paracelsus-Kliniken, Osnabrück

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