Aus den Kliniken

Mehr Licht auf die Dunkelziffer von SARS-CoV-2-Infektionen

10.12.2021 - Bundesweite Antikörper-Studie „MuSPAD“ des HZI untersuchte die Unterschiede der ersten drei Pandemiewellen in sieben Regionen Deutschlands.

Von Juli 2020 bis August 2021 untersuchte die Abteilung Epidemiologie des Helmholtz-Zentrums für Infektionsforschung (HZI) in Braunschweig im Rahmen der bundesweit angelegten Studie „MuSPAD“ das Blut von rund 26.000 Menschen auf Antikörper gegen das Coronavirus SARS-CoV-2. Es zeigte sich, dass nach der ersten Welle in den Studienorten, in denen zwischen Juli und Oktober 2020 gemessen wurde, nur ein bis drei Prozent der Menschen eine SARS-CoV-2-Infektion durchgemacht hatten. Auch nach dem Ende der dritten Welle lag die Seroprävalenz in den meisten Studienorten bei unter 15 Prozent. Während in der ersten Welle auf jede gemeldete Infektion zwei bis fünf tatsächliche Infektionen kamen, nahm dieses Verhältnis – und damit die Dunkelziffer – in der zweiten und dritten Welle ab. Die Ergebnisse wurden jetzt in der internationalen Ausgabe des Deutschen Ärzteblatts veröffentlicht. Zudem erschien kürzlich eine Preprint-Publikation zu einer weiteren Studie, in der die Immunantwort nach einer Impfung gegen SARS-CoV-2 mit Proben aus der MuSPAD-Studie untersucht wurde.

Auch wenn viele Infektionen mit dem Coronavirus SARS-CoV-2 nur milde Erkältungssymptome verursachen oder symptomlos verlaufen, erfordert die sehr hohe Gesamtzahl an Infektionen wirksame Schutzmaßnahmen, um die besonders gefährdeten Personengruppen vor schweren Krankheitsverläufen zu schützen. Dafür ist es wichtig, die Dunkelziffer der Infektionen einschätzen zu können. Besonders interessant ist zudem, in welchen Lebensbereichen die meisten Ansteckungen geschehen und an wie viele Menschen eine infizierte Person das Virus durchschnittlich weitergibt. Im Juli 2020 startete das Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung (HZI) daher die „Multilokale und Serielle Prävalenzstudie zu Antikörpern gegen SARS-CoV-2-Coronavirus in Deutschland“ (MuSPAD) unter Leitung von Prof. Gérard Krause, der am HZI der Abteilung Epidemiologie vorsteht. Anhand von Blutproben bestimmten die Wissenschaftler den Antikörperstatus in der Bevölkerung in sieben Landkreisen, die unterschiedlich stark von der Pandemie betroffen waren.

Die ausgewählten Studienorte waren Reutlingen, Freiburg, Aachen, Osnabrück, Magdeburg, Chemnitz und Vorpommern-Greifswald. Die ersten sechs Landkreise wurden zweimal im Abstand von drei bis vier Monaten beprobt. Teilgenommen haben in der ersten Runde fast 17.000 Menschen im Alter von 18 bis 99 Jahren. In der zweiten Runde haben fast 40 Prozent noch einmal teilgenommen, während über 9000 ungeimpfte Personen an sechs Studienorten neu hinzukamen. Um einen repräsentativen Querschnitt der Bevölkerung zu erreichen, wurden Einladungen an zufällig von den jeweiligen Einwohnermeldeämtern bezogene Adressen versandt. Für die Untersuchungen wurden den Teilnehmenden neun Milliliter Blut abgenommen und über mehrere Fragebögen Informationen zu Lebensumständen und Gesundheit eingeholt und analysiert.

„Aufgrund der Größe der Studie, der geographischen Verteilung und der mehrzeitigen Untersuchungen können wir mit dieser Studie punktuelle Besonderheiten erkennen und in der Bewertung berücksichtigen“, sagt Gérard Krause. „Damit können wir das pandemische Geschehen und die Wirksamkeit von Schutzmaßnahmen in unterschiedlichen Regionen und Bevölkerungsgruppen in Deutschland besser einordnen.“

Die nach Alter und Geschlecht gewichtete Seroprävalenz, also der Anteil der Menschen mit Antikörpern im Blut, lag während der ersten Beprobungen bis Oktober 2020 in Freiburg, Reutlingen, Aachen und Osnabrück zwischen 1,3 und 2,6 Prozent. „In diesem Zeitraum resultierte die Mehrzahl der gemeldeten Fälle aus Infektionen während der ersten Welle. Die noch wenig intensive Testung und viele symptomlose Infektionen im Frühjahr und Sommer lassen auf eine hohe Untererfassung um den Faktor drei bis fünf schließen“, sagt Berit Lange, Leiterin der Klinischen Epidemiologie am HZI. In den Studienorten, die erst nach der zweiten oder dritten Welle bis August 2021 beprobt wurden, hatten weitere 2,4 bis 19,9 Prozent der noch nicht geimpften Bevölkerung eine Infektion durchgemacht. Die Dunkelziffer lag in den meisten Orten während der zweiten und dritten Welle niedriger als in der ersten Welle.

Zudem konnte gezeigt werden, dass 14 Prozent der Teilnehmer, denen als Kontaktperson eine Quarantäne auferlegt wurde, tatsächlich eine per Antikörper nachweisbare Exposition mit dem Virus hatten. Unter den Teilnehmenden, die nie in Quarantäne waren, hatten 2,1 Prozent Antikörper gegen SARS-CoV-2.

Deutlich abweichende Zahlen lieferte Chemnitz als letzter Studienort im Juli 2021. Dort lag die gewichtete Seroprävalenz bei den noch nicht geimpften Teilnehmenden bei 32,4 Prozent. „Dieser hohe Anstieg im Vergleich zu der ersten Untersuchung im März mit 13,1 Prozent kann damit zusammenhängen, dass sich auf die Einladung mehr Menschen mit bereits bekannter SARS-CoV-2-Infektion zur Teilnahme bereiterklärt haben. Zudem könnte ein größerer Anteil der Ungeimpften im Vergleich zu den Geimpften bereits eine Infektion durchgemacht haben“, sagt Lange.

MuSPAD hat im Fazit ergeben, dass auch nach der dritten Welle die Mehrheit der Bevölkerung keine Immunität gegen das Virus aufgebaut hat. Die Untererfassung – also die Dunkelziffer – war in der zweiten und dritten Welle geringer als in der ersten. Durchschnittlich war unter sieben Personen, denen eine Quarantäne angeordnet wurde, eine Person dabei, die sich tatsächlich infiziert hatte.

„Trotzdem eine Verlängerung der Studie leider nicht möglich war, um auch aktuelle und künftige Wellen entsprechend zu untersuchen, trägt diese Studie auch jetzt bereits zur aktuellen Lageeinschätzung bei“, sagt Gérard Krause. „In weiteren Analysen werden wir immunologische und gesellschaftliche Fragestellungen vertiefen.”

Im Rahmen einer weiteren Studie in Kooperation mit dem Naturwissenschaftlichen und Medizinischen Institut in Reutlingen wurde die Immunantwort nach einer SARS-CoV-2-Impfung mit Proben aus der MuSPAD-Studie untersucht. Dabei kamen zwei speziell entwickelte Testverfahren zum Einsatz, die beide auf dem sogenannten Multiplex-Verfahren basieren. Während MULTICOV-AB zur Mengenbestimmung von SARS-CoV-2-Antikörpern dient, erlaubt der verwendete RBDCoV-ACE2-Kompetitionstest Aussagen über die Fähigkeit der vorhandenen Antikörper, die Anbindung des Virus an die Zelle zu hemmen. Die Ergebnisse zeigen unter anderem, dass auch außerhalb klinischer Studien mRNA-basierte Impfstoffe – zum Beispiel von Moderna und BioNTech – in oder ohne Kombination mit einem vektorbasierten Impfstoff von AstraZeneca mit einer höheren Bildung an inhibitorischen Antikörpern gegen verschiedene SARS-CoV-2-Virusvarianten einhergeht als eine Impfung mit vektorbasierten Impfstoffen allein.

Die Studie MuSPAD wurde vollständig von der Helmholtz-Gemeinschaft Deutscher Forschungszentren finanziert.

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