Genaktivitäten in lebenden Zellen messen
22.08.2022 - Forschende der ETH Zürich und der EPFL erweitern das aufstrebende Feld der Einzel-Zell-Analysen um eine wegweisende Methode: Live-seq erlaubt es, die Aktivität von Tausenden von Genen einer einzelnen Zelle zu messen, ohne sie isolieren und zerstören zu müssen.
Die moderne Biologie will zunehmend verstehen, warum sich individuelle Zellen unterschiedlich verhalten. In der Grundlagenforschung stehen dazu seit wenigen Jahren verschiedene hochempfindliche Messmethoden bereit, um gezielt einzelne Zellen zu analysieren. Solche Einzel-Zell-Analysen erlauben es, Unterschiede zwischen Zellen eines Verbands zu erkennen, seltene Zelltypen zu finden oder kranke Zellen zu identifizieren – was mit Proben gemischter Zellpopulationen nicht möglich ist.
Wissenschaftler wollen vermehrt herausfinden, welche Gene in einer bestimmten Zelle eingeschaltet oder ausgeschaltet sind. Das lässt sich mittels RNA-Sequenzierung einzelnen Zellen untersuchen (Englisch: single-cell RNA sequencing, kurz scRNA-seq). Dabei werden möglichst alle in der Zellflüssigkeit vorhandenen Boten-RNA-Moleküle entziffert und den jeweiligen aktiven Gensequenzen zugeordnet. So kann die Einzel-Zell-RNA-Sequenzierung die Aktivität von Tausenden Genen in einer Zelle messen.
Das junge Feld der Einzel-Zell-RNA-Sequenzierung ist rasch zu einem wichtigen Instrumentarium für die biomedizinische Forschung gewachsen und umfasst heute zahlreiche Techniken zur Analyse der gesamten Boten-RNA, des Transkriptoms. „All diesen Techniken ist jedoch eine Einschränkung gemein, die lange als unvermeidbar galt“, sagt Julia Vorholt, Professorin für Mikrobiologie an der ETH Zürich, „nämlich, dass die zu untersuchenden Zellen isoliert, aufgelöst und somit abgetötet werden müssen.“
Zellen biopsieren statt zerstören
Ein Team von Forschenden um Vorholt und EPFL-Professor Bart Deplancke wartet nun mit einer Alternative für die Einzel-Zell-RNA-Sequenzierung auf: Sie analysiert ebenfalls das Transkriptom, erfasst dieses jedoch minimalinvasiv mittels zellulären Biopsien und hält die Zelle dabei am Leben und funktional intakt, was einzigartig ist. Die Wissenschaftler stellen ihre „Live-seq“ genannte Technik in der Fachzeitschrift Nature vor.
Allein dass die analysierte Zelle nicht stirbt, ist laut den Forschenden ein Vorteil für sich: „Unsere Stärke ist, die beprobten Zellen weiter unter dem Mikroskop beobachten zu können, wie sie sich entwickelt und verhält“, führt Vorholt aus.
Abgesehen davon belässt Live-seq die Zellen auch in ihrem physiologischen Kontext. „Die Mikroumgebung und die Zell-Zell-Interaktionen bleiben bestehen“, ergänzt Orane Guillaume-Gentil, Postdoc in der Gruppe von Vorholt. Sie hat die Methode zusammen mit Wanze Chen von der EPFL im Labor etabliert.
Basis ist ein Zellsauger-Mikrosystem
Die Vorarbeiten für die Erfassung des Transkriptoms aus lebenden Zellen leisteten die Forschenden vor einiger Zeit an der ETH Zürich. Das Fundament bildet das an der ETH Zürich entwickelte Mikroinjektionssystem FluidFM, das winzige Flüssigkeitsmengen unter einem Mikroskop manipulieren kann. Vorholt und ihre Gruppe machten aus der „kleinsten Injektionsnadel der Welt“ eine Zell-Extratktionsmethode, um einzelne lebende Zellen mit der Mikro-Injektionsnadel anzupiksen und deren Inhalt auszusaugen.
Aktuell zeigen die Teams um Vorholt und Deplancke, dass sich vollwertige Transkriptome aus solchen Zellbiopsien nachweisen lassen. Der entscheidende Fortschritt entstand, als es den Forschenden gelang, die RNA aus diesen winzigen Mengen an Zellflüssigkeit auszulesen.
Um Live-seq zu validieren, demonstrierte das EPFL-ETH-Forschungsteam, dass ihr Analysewerkzeug verschiedene Zelltypen und -zustände genau identifizieren kann, ohne sie zu stören. Zudem nutzten die die Forschenden ihre Plattform, um die Veränderungen einzelner Immunzellen direkt abzubilden, bevor und nachdem sie aktiv wurden, sowie von Fettstromazellen – einer Art von Stammzellen – bevor und nachdem sie sich in Fettzellen differenzierten.
Die Genaktivität über die Zeit verfolgen
Live-seq kann nun helfen, neue biomedizinisch relevante Fragestellungen zu untersuchen. Deplancke, EPFL-Professor für Systembiologie, erläutert näher: „Etwa warum sich bestimmte Zellen differenzieren und ihre Schwesterzellen nicht, oder warum bestimmte Zellen gegen ein Krebsmedikament resistent sind und ihre Schwesterzellen wiederum nicht“.
Zudem kann Live-seq nun die Aktivität Tausender von Genen in einer einzelnen Zelle durch wiederholte Messungen auch über die Zeit hinweg verfolgen. „So wandelt sich die Einzel-Zell-Analyse von einem Endpunkt zu einem zeitlichen und räumlichen Analyseverfahren“, sagt Vorholt.