Akute Myeloische Leukämie: Zuerst Stammzelltransplantation oder Chemotherapie?
24.02.2023 - Bei einer Akuten Myeloischen Leukämie (AML) mit mittlerer Risiko-Prognose und Verfügbarkeit eines potentiellen Stammzellspenders gilt: Eine unmittelbare Stammzelltransplantation während der ersten Komplettremission – einer vorläufigen vollständigen Zurückdrängung der Erkrankung – führt verglichen mit einer fortgesetzten Chemotherapie und möglichen Transplantation bei Krankheitsrückfall nicht zu einem verbesserten Gesamtüberleben.
Zu diesem Ergebnis kommt eine deutschlandweite Studie unter Leitung von Forschenden der Hochschulmedizin Dresden, am Nationalen Centrum für Tumorerkrankungen Dresden (NCT/UCC) und der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster.
Die weltweit erste randomisierte Studie zu dieser Fragestellung liefert eine wichtige Grundlage für künftige Therapieentscheidungen. In Ländern wie den USA, in denen eine sofortige Stammzelltransplantation als Standard gilt, könnten die Ergebnisse zu einem grundlegenden Umdenken bei diesem Behandlungsschritt führen. Die Studie wurde in der Zeitschrift JAMA Oncology veröffentlicht.
Trotz Fortschritten in der Behandlung überleben bislang nur etwa 30 Prozent aller erwachsenen Erkrankten mit einer Akuten Myeloischen Leukämie (AML) einen Zeitraum von mindestens fünf Jahren. Bei Patientinnen und Patienten, die für eine intensive Therapie geeignet sind, ist die Transplantation von Stammzellen eines gesunden Spenders häufig die Methode mit der größten Heilungschance. Weitere Verbesserungen der Therapie werden dringend benötigt.
Eine Studie an 16 deutschen Kliniken liefert nun eine wichtige Grundlage für die optimale Therapieentscheidung bei Erkrankten mit so genanntem mittlerem Risiko. Wichtigste Indikatoren für die Einstufung in drei Risikogruppen – günstige Prognose, mittleres Risiko, ungünstige Prognose – sind bestimmte genetische Merkmale der Krebszellen, die Rückschlüsse auf den weiteren Verlauf der Erkrankung zulassen. Nach einer initialen Chemotherapie und einer vorläufigen vollständigen Zurückdrängung der Erkrankung (Komplettremission) werden Erkrankte mit günstiger Prognose mit einer Chemotherapie weiterbehandelt, während Betroffene mit ungünstiger Prognose bei Vorhandensein eines geeigneten Spenders eine Stammzelltransplantation erhalten. Bei Patientinnen und Patienten mit mittlerem Risiko herrschte bislang Uneinigkeit darüber, welche der beiden Behandlungsmethoden zu bevorzugen ist.
Die aktuelle Studie konnte nun zeigen, dass eine sofortige Transplantation fremder (allogener) Stammzellen bei der größten Gruppe der AML-Patientinnen und -Patienten mit mittlerem Risiko während der ersten Komplettremission zwar sehr effektiv ist, aber gegenüber einer fortgesetzten Chemotherapie und Transplantation im Bedarfsfall keinen Vorteil für das Gesamtüberleben bringt.
In die Studie eingeschlossen waren 143 erwachsene AML-Erkrankte zwischen 18 und 60 Jahren, bei denen ein passender Spender für eine Stammzelltransplantation verfügbar war und nach der ersten intensiven Chemotherapie eine Komplettremission der Erkrankung erzielt werden konnte. Nach dem Zufallsprinzip wurden die Betroffenen in zwei Gruppen eingeteilt: Gruppe eins erhielt eine Stammzelltransplantation, Gruppe zwei wurde mit einer Chemotherapie weiterbehandelt. Wenn Erkrankte der Gruppe zwei einen Rückfall erlitten, erfolgte auch bei ihnen eine Stammzelltransplantation.
Hohe Heilungschancen mit beiden Strategien
Insgesamt waren die Behandlungsergebnisse in beiden Studien-Armen sehr ermutigend; das Zwei-Jahres-Überleben lag bei 74 beziehungsweise 84 Prozent. Im Vergleich der beiden Gruppen zeigte die sofortige Stammzelltransplantation jedoch keinen statistisch signifikanten Vorteil. „Dies ist ein wichtiges Ergebnis, da für Patienten mit einem verfügbaren Spender nun zwei im Ergebnis vergleichbar gute Strategien zur Wahl stehen“, sagt Prof. Martin Bornhäuser, Direktor der Medizinischen Klinik I des Universitätsklinikums Dresden und Mitglied im geschäftsführenden Direktorium des Nationalen Centrums für Tumorerkrankungen Dresden (NCT/UCC). Beide Behandlungsoptionen sind mit spezifischen Vor- und Nachteilen verbunden: Während bei einer Stammzelltransplantation etwa die therapiebedingten Risiken größer sind, besteht bei fortgesetzter Chemotherapie ein höheres Rückfallrisiko. „Aufgrund der Ergebnisse kann es durchaus gerechtfertigt sein, dass die Patienten sich zunächst für die Weiterbehandlung mit einer Chemotherapie entscheiden und eine Stammzelltransplantation erst bei einem möglichen Wiederaufflammen der Krankheit durchgeführt wird. Erstmals war es möglich, dies in einer randomisierten, also besonders aussagekräftigen Studie zu überprüfen. Kaum ein AML-Patient ist bereit, die Entscheidung für oder gegen eine sofortige Transplantation einer zufälligen Zuordnung im Rahmen einer Studie zu überlassen. Wir sind allen Teilnehmenden sehr dankbar, dass sie diese wichtige Untersuchung ermöglicht haben“, erklärt Prof. Bornhäuser.
In der Studie erlitten 60 Prozent der Patientinnen und Patienten, die zunächst mit einer Chemotherapie weiterbehandelt wurden, in den ersten zwei Jahren nach Therapiebeginn einen Rückfall und wurden daran anschließend mit einer allogenen Stammzelltransplantation behandelt. „Wenn Betroffene große Angst vor einem Rückfall und weiteren Krankenhausaufenthalten haben, kann – nach einer intensiven gemeinsamen Abwägung durch die behandelnden Ärzte und den Patienten – eine Entscheidung für eine sofortige Stammzelltransplantation sinnvoll sein. Denn diese ist mit einem deutlich geringeren Rückfallrisiko verbunden. Dafür sind Betroffene dann unter Umständen bereit, ein höheres therapiebedingtes Risiko in Kauf zu nehmen“, sagt Prof. Matthias Stelljes, Leiter des Bereichs Knochenmarktransplantation am Universitätsklinikum Münster, sowie Co-Leiter der Studie und Letztautor der Publikation.
Hinsichtlich der Lebensqualität der Patientinnen und Patienten zeigte die Untersuchung für beide Behandlungswege – die mit vier bis sechs Wochen Krankenhausaufenthalt einhergehende Stammzelltransplantation wie die fortgesetzte Chemotherapie im Zeitraum von etwa einem halben Jahr – keinen relevanten Unterschied. „Unmittelbar während der Stammzelltransplantation war die empfundene Lebensqualität der Betroffenen etwas schlechter, ansonsten waren keine signifikanten Unterschiede zwischen den beiden Gruppen feststellbar. Hier interessiert uns künftig vor allem auch das Ergebnis der Langzeitnachbeobachtung nach zehn Jahren“, sagt Prof. Stelljes.
Weltweit wichtige Grundlage für Therapieentscheidung – frühe Spendersuche wichtig
Die Ergebnisse der Studie sind für Ärztinnen und Ärzte eine wichtige Grundlage, um gemeinsam mit den Betroffenen die Entscheidung für die bestmögliche Therapie zu treffen. „In Europa setzen Ärzte alternativ zur Stammzelltransplantation bereits auf eine Weiterbehandlung mittels Chemotherapie – durch die Ergebnisse der Untersuchung erhalten sie zusätzliche Sicherheit für die patientenindividuelle Wahl zwischen beiden Methoden. In anderen Ländern wie den USA hingegen gilt bislang eine sofortige Stammzelltransplantation als Standard, hier könnte unsere Studie zu einem grundlegenden Umdenken führen“, betont Prof. Bornhäuser. „Wir sind stolz darauf, dass unter Federführung der Hochschulmedizin Dresden Impulse ausgehen, die Therapieentscheidungen für Leukämie-Patienten weltweit verbessern können“, sagt Prof. Michael Albrecht, Medizinischer Vorstand des Universitätsklinikums Dresden.
„In jedem Fall sollte bei einer Akuten Myeloischen Leukämie so früh wie möglich nach einem passenden Stammzell-Spender gesucht werden. Deutschland ist hierbei durch die großen Spenderregister hervorragend aufgestellt; nirgendwo sonst auf der Welt gelingt die Spendersuche so schnell. Das Vorhandensein eines geeigneten Spenders ist auch bei einer zunächst gewählten Chemotherapie die Versicherung für den Patienten, dass bei einem möglichen Rückfall schnell gehandelt werden kann“, erklärt Prof. Stelljes.
Neueste diagnostische Methoden ermöglichen es zudem, den Verlauf einer AML-Erkrankung immer genauer zu überwachen. Ziel künftiger Studien wird es daher auch sein, den optimalen Zeitpunkt für eine Transplantation möglichst patientenindividuell zu bestimmen. „Ideal wäre es, wenn wir bei einer zunächst fortgesetzten Chemotherapie künftig bereits bei einer deutlichen Verschlechterung wichtiger Krankheitsparameter und nicht erst bei einem für den Patienten gefährlichen Rückfall transplantieren könnten – in diese Richtung geht die aktuelle Entwicklung“, sagt Prof. Bornhäuser.