Medizin & Technik

Bildgebungstechnologie enthüllt Rolle von Immunzellen bei der Entstehung des diabetischen Katarakts

16.02.2023 - Neue Erkenntnisse von Forschern des Brigham and Women's Hospital und der Harvard Medical School in Zusammenarbeit mit dem Gesundheitscampus Göttingen widersprechen bisherigen Vorstellungen über die Rolle von Zucker bei der Entstehung des diabetischen Grauen Stars.

Das Forscherteam unter der Leitung von Prof. Dr. Ali Hafezi-Moghadam, Direktor des Molecular Biomarkers Nano-Imaging Laboratory (MBNI), hat in Zusammenarbeit mit HAWK-Professor Dr. Christoph Rußmann, Dekan des Gesundheitscampus Göttingen, und Visiting-Professor am MBNI, frühe Anzeichen von Schäden im Auge vor dem Ausbruch von Typ-2-Diabetes gefunden. Das deutet darauf hin, dass diabetische Komplikationen bereits im prädiabetischen Zustand beginnen können. Die Ergebnisse hat das Team im renommierten Journal of Biomedical Science veröffentlicht.

Grauer Star – die Trübung der Augenlinse – ist weltweit die häufigste Ursache für Erblindung und zudem eine häufige Komplikation bei Typ-2-Diabetes. Die derzeitige Hypothese über die Entstehung des Grauen Stars wird als "Zuckerhypothese" bezeichnet und besagt, dass ein hoher Blutzucker – ein Kennzeichen von Diabetes – die Entstehung des Grauen Stars beschleunigt. Die der Zuckerhypothese zugrundeliegende Arbeitshypothese besagt, dass sich höhere Glukosespiegel in den Linsen von Menschen mit Diabetes in ein Zuckeralkoholmolekül namens Sorbit umwandeln, das strukturelle Veränderungen in der Augenlinse hervorruft, die der Kataraktentwicklung vorausgehen. Obwohl diese Theorie nicht bewiesen ist, wird sie von den Forschern nur selten weiter untersucht, da Katarakte derzeit chirurgisch behandelbar sind. „Eine Theorie kann lange Zeit überleben, wenn sie nicht angefochten wird", so Hafezi-Moghadam.

„Mehr als ein halbes Jahrhundert lang lieferte die Zuckerhypothese eine Erklärung dafür, wie die Linse undurchsichtig wird, wenn der Blutzucker eines Tieres experimentell erhöht wird", so Hafezi-Moghadam, „aber so muss es bei der menschlichen Katarakt nicht sein."

Um die Ursprünge der Gewebeschäden bei Diabetes zu entschlüsseln, brach das Team um Hafezi-Moghadam mit den bestehenden Modellen. Stattdessen führte es seine Studien an der Nilratte durch, einem Modell, von dem das Team ursprünglich berichtet hatte, dass es spontan Typ-2-Diabetes entwickelt, wenn es in Gefangenschaft gehalten wird und das den Zustand beim Menschen sehr gut nachahmt. Darüber hinaus „half uns die fortschrittliche Bildgebungstechnologie, die wir in dieser Studie verwendeten", so Rußmann, "zum ersten Mal konnten wir punktförmige Mikroläsionen sehen, die sonst nicht sichtbar gewesen wären. Das ist der Punkt, an dem fortschrittliche Medizintechnik zu neuen mechanistischen Erkenntnissen führt."

Die neu gefundenen Mikro-Läsionen gingen allen Formen des diabetischen Katarakts voraus. Unerwarteterweise traten die Mikro-Läsionen jedoch bei fast der Hälfte der Tiere auf, bevor die Tiere in eine Hyperglykämie, also einen hohen Blutzucker, gerieten. „Es wurde deutlich, dass es eine höhere Komplexität gibt, als die Zuckerhypothese erklären konnte", so Dr. Ehsan Ranaei Pirmaradan, Erstautor der Studie und Postdoktorand am MBNI und der Harvard Medical School. „Wir fanden Immunzellen in der Nähe der Linse und in der Linsenkapsel. Das lenkte unseren Blick in eine völlig neue Richtung."

Die Forscher stellten fest, dass Immunzellen von speziellen Strukturen im Auge, den Ziliarkörpern, in Richtung Linse wandern. In diesen Bereichen, in denen die Immunzellen die Linsenkapsel durchquerten, stellten sie fest, dass die Epithelzellen, die normalerweise die innere Oberfläche der Linsenkapsel bedecken, ihre Identität veränderten und sich anders verhielten. Auf diese Veränderungen, die auch als epithelial-mesenchymale Transformation (EMT) bezeichnet werden, folgten ein scheinbar unorganisiertes Zellwachstum, Zelltod und Zellwanderungen in den Linsenkörper. In einigen Regionen verließen die neu transformierten Zellen einfach ihre ursprüngliche Position und bahnten sich ihren Weg in die Linse. Solche zellulären Veränderungen, so klein sie auch sein mögen, beeinträchtigen die Funktion der Linse erheblich. „Es war ein Glücksfall, dass unsere Bildgebungstechnologie gerade hoch genug aufgelöst war, um solche mikroskopischen Läsionen im lebenden Organismus zu sehen", sagt Rußmann. „Eine zukünftige Richtung wird sein, dieses Wissen in eine frühe klinische Diagnose umzusetzen."

„Unsere Studie wirft spannende neue Fragen auf, die uns in der Zukunft noch beschäftigen werden", sagt Hafezi-Moghadam. „Wir müssen verstehen, warum sich die Immunzellen und die Epithelzellen der Linse so verhalten, bevor der Blutzuckerspiegel über den Normalwert steigt. Dies wird uns dem Verständnis näherbringen, warum diabetische Komplikationen bereits in der prädiabetischen Phase der Krankheit beginnen können." Mit diesem Wissen, so Hafezi-Moghadam, „können wir nach Wegen suchen, wie wir verhindern können, dass Menschen mit Diabetes einen Grauen Star und möglicherweise andere Komplikationen an anderen Stellen des Körpers entwickeln."

„Katarakte lassen sich heute zwar leicht durch einen chirurgischen Eingriff entfernen, aber dieser Eingriff birgt das Risiko von Komplikationen", sagte Hafezi-Moghadam. „Angesichts von weltweit über 500 Millionen Menschen, die an Diabetes erkrankt sind, ist es dringend notwendig, nach nicht-chirurgischen Möglichkeiten zu suchen, um diese Komplikation zu verhindern, zu verlangsamen oder sogar rückgängig zu machen. Vielleicht wird es eines Tages möglich sein, diese Operationen ganz zu vermeiden. Dazu müssen wir uns wieder auf die Grundlagen besinnen.”

Prof. Rußmann von der HAWK ist ein langjähriger Kollege von Prof. Hafezi-Moghadam in Harvard. Die Forscher haben kürzlich ein internationales Förderprojekt der US National Science Foundation (NSF) und des Bundesministeriums für Bildung und Forschung in Deutschland erhalten, um ihre transatlantische Zusammenarbeit zu vertiefen. „Man braucht die innovativsten Technologien, die auf die besten existierenden Tiermodelle angewandt werden, um die dringenden medizinischen Bedürfnisse unserer Zeit anzugehen", erklärt Hafezi-Moghadam, „und manchmal führt das zu neuen Erkenntnissen, die helfen, ein neues Paradigma zu bilden."

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