Brennpunkt Künstliche Intelligenz
30.01.2023 - Forschungsbereiche zeigen, wie KI bei der Tumorsegmentierung, der Ansteuerung von Prothesen oder der Optimierung bildgebender Verfahren helfen kann.
So multiplex wie die Anwendungen sind auch die Anforderungen an KI-Systeme in der Medizin. Methoden der Künstlichen Intelligenz (KI) werden eingesetzt, um komplexe Zusammenhänge datengetrieben zu lernen und die Grenzen klassischer mathematischer Modelle zu überwinden. Dabei sind die Unempfindlichkeit gegenüber Störungen und unvollständigen Daten sowie die Interpretierbarkeit der Algorithmen von essenzieller Bedeutung. „Durch die Anwendung von Algorithmen können verschiedene Forschungsdatensätze miteinander vernetzt und mit hoher Geschwindigkeit analysiert werden. Dies könnte helfen, zukünftig wesentlich rascher zu neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen zu kommen. Heute vergeht eine viel zu lange Zeit, bis auf Basis einer Forschungshypothese Ergebnisse resultieren, die in geänderte Leitlinienempfehlungen münden“, sagt Professor Dr. rer. nat. Martin Sedlmayr, Inhaber der Professur für Medizinische Informatik der Medizinischen Fakultät Carl Gustav Carus der Technischen Universität Dresden.
Neue Chancen durch Algorithmen
In der Gesundheitsversorgung gilt KI heute als Schlüsseltechnologie. KI-gestützte Verfahren und Methoden können dazu beisteuern, die richtige Diagnose zu stellen, beispielsweise indem Algorithmen auf das Erkennen bestimmter Erkrankungen bei Computertomographie-Aufnahmen trainiert werden. Auf der Basis der eingegebenen Symptome und Befunde können Ursachen und die individuell jeweils aussichtsreichste Therapie aufgezeigt werden. Um KI erfolgreich im Klinikalltag einsetzen zu können, braucht es jedoch Vertrauen und Akzeptanz sowohl bei Ärzten als auch bei Patienten. Dazu will der Forschungsverbund FRAIM einen Beitrag leisten: Sein Ziel ist es, einen ethisch und rechtlich fundierten sowie empirisch abgesicherten Bewertungsrahmen für KI-Verfahren bereitzustellen, die in der medizinischen Diagnostik und Entscheidungsfindung angewendet werden. In unterschiedlichen Teilprojekten werden detaillierte ethische, rechtliche und empirische Analysen durchgeführt, um die Akzeptanz von KI-basierten Verfahren insbesondere in der Neuromedizin zu ermitteln. Die Forschenden gehen u.a. folgenden Fragen nach: Was ist für Patienten sowie Ärzte relevant zur Bewertung der Vertrauenswürdigkeit und Nützlichkeit von KI-Technologie? Wie wirkt sich der Einsatz von KI zur Diagnose und Entscheidungsfindung auf die Arzt-Patienten-Beziehung aus? Wie können Schwächen des geltenden Rechts behoben und tragfähige rechtliche Lösungen entwickelt werden? Der im Projekt erstellte Bewertungsrahmen soll die Erwartungen derjenigen berücksichtigen, die die Verwendung dieser neuartigen Technik direkt betrifft, und Anleitungen für die tägliche Arbeit von Ärzten mit KI-basierten Werkzeugen enthalten. Deshalb wird über Experteninterviews und Online-Befragungen insbesondere die Einschätzung von Neuroradiologen ermittelt, die KI z. B. bei der medizinischen Bildgebung anwenden.
Vielseitigkeit von KI-Lösungen
Künstliche Intelligenz nimmt in den verschiedenen Bereichen der Medizin eine immer wichtigere Rolle ein, während Einsatzszenarien immer bunter werden. Health- und Symptom-Checker-Apps erfassen Daten in standardisierter Form und helfen dadurch, Erkrankungen frühzeitig zu erkennen und die Effektivität von Behandlungsmethoden zu erhöhen. Medizinische Bildgebungsverfahren können immer genauere Aussagen treffen und Mediziner bei der Diagnosefindung unterstützen. KI muss trotz vieler unbekannter Umstände robust funktionieren. Beispielsweise beim Sleep Staging werden EEG-Daten ausgewertet, die während des Schlafes aufgenommen werden. Die Herausforderung besteht u.a. darin, trotz unterschiedlicher Bedingungen und Messgeräte für alle Patienten zuverlässige Ergebnisse zu liefern. Anhand unzähliger EEG-Messungen wird demonstriert, wie zuverlässig und robust KI sein kann. Beispiel Deep-Learning-basierte Hirntumorsegmentierung: Wie KI-Methoden Hirntumore in räumlichen 3D-MRT-Bildfolgen zuverlässig und zeiteffizient pixelgenau automatisiert abgrenzen können, zeigt eine Software-Demonstration zur KI-basierten Tumor-Segmentierung. Die Deep-Learning-basierte Bildanalyse ermittelt wesentliche Kenngrößen des Gehirntumors wie dessen Volumen, Position und Intensitätswerte automatisch und liefert die Grundlage für eine quantitative Auswertung und Bewertung der Entwicklung der Wucherung. In hybriden Bildverarbeitungssystemen werden Methoden der KI mit medizinischen Bildverarbeitungsverfahren und Visualisierungstechniken zur ärztlichen Unterstützung kombiniert.
Beispiel „Implementierung in der Vorsorge-Koloskopie“: Bei der endoskopischen Untersuchung des Dickdarms im Rahmen der Darmkrebs-Vorsorge setzen die Ärzte der Klinik und Poliklinik für Innere Medizin I des UKR bereits ein System mit integrierter KI im klinischen Alltag ein. Dieses unterstützt die endoskopierenden Ärzte während der Untersuchung bei der Detektion und Charakterisierung von Polypen im Dickdarm. „Diese Systeme funktionieren ähnlich wie Assistenzsysteme in modernen Pkws und führen zu einer weiteren Verbesserung der Qualität unserer Vorsorge-Koloskopie. Sie geben den Untersuchern Hinweise auf Polypen und markieren gezielt Bereiche im Dickdarm, um diese noch einmal genauer zu inspizieren und das Auffinden von Polypen im Dickdarm zu verbessern“, so Priv.-Doz. Dr. Arne Kandulski.
Vorhersage von Dekompensationen
Damit Pflegende und Ärzte auf Intensivstationen sich mehr auf ihre Patienten konzentrieren können, sollen Techniken der KI bei der Analyse der vielfältigen Patientendaten unterstützen. Hier setzt das Projekt RIDIMP des Bremer Klinikverbunds Gesundheit Nord und des DFKI-Forschungsbereichs „Cyber-Physical Systems“ an. Um aus den unzähligen Informationen sinnvoll lernen zu können, müssen diese bewertet werden. Mediziner der Gesundheit Nord definieren dazu zwei numerische Scores, die sich aus vielen Einzelparametern wie Sauerstoffsättigung, Puls oder Medikamentengaben zusammensetzen und den Zustand des Kreislaufs bzw. der Atmung anhand der Daten auf einer Skala von 0 (unkritisch) bis 9 (höchst kritisch) beurteilen. Diese Werte werden wiederum verwendet, um vorliegende historische Patientendaten zu bewerten und daraus mit Techniken des maschinellen Lernens eine Vorhersage für den Wert der Scores in der Zukunft und damit für die Wahrscheinlichkeit eines Zusammenbruchs (kardiopulmonale Dekompensation) von Kreislauf oder Atmung zu implementieren. Auf diese Weise kann aus der Vielzahl der erfassten Daten sehr präzise die Entwicklung der zwei Scores und damit der gesundheitliche Zustand der Patienten in der Zukunft prognostiziert werden. So identifiziert das medizinische Fachpersonal frühzeitig drohende Probleme.
Früherkennung von Herzkrankheiten
Daten aus Elektrokardiogrammen von KI analysieren lassen und endlich schnell, kostengünstig und zuverlässig das Risiko für bestimmte Herzerkrankungen bestimmen – mit dieser Gründungsidee hat das Team CardioIQ mit Forschenden von der Technischen Hochschule Mittelhessen (THM) und Justus-Liebig-Universität Gießen (JLU) bereits die eine oder andere Preisjury überzeugt. Das neue System kann EKG-Aufnahmen aus unterschiedlichsten Quellen einlesen und für die Anwendung der KI vorbereiten sowie um weitere Daten der Patienten ergänzt werden. Die KI erkennt dabei komplexe Muster, wie sie bei Veränderungen – z. B. Vernarbungen – im Herzmuskel auftreten. „Das System entdeckt offensichtliche, aber auch subtile Veränderungen“, erklärt Professor Till Keller. Damit können die Anwendung aufwendiger zusätzlicher Diagnostik auf notwendige Fälle reduziert werden und so knappe Ressourcen geschont sowie invasive Untersuchungen vermieden werden. Derzeit gelte es, die „Verarbeitungspipelines“ für verschiedene Datenquellen anzulegen.
So sollen neben digitalen wie gedruckten EKG-Daten etwa auch solche aus Wearables oder anderen Monitoring-Systemen genutzt werden können. Weiterhin müsse die KI fortwährend trainiert und auch der passende Kanal für die Rückspiegelung der Ergebnisse an die Informationssysteme der Praxen gefunden werden. Ziel sei es nicht, Kardiologen die Diagnose abzunehmen, sondern sie zu unterstützen. Wie bedeutsam dieser gerade für Patienten niedrigschwellige Ansatz sein kann, macht Keller deutlich: „Allein im Jahr 2019 sind in Deutschland mehr als 202.000 Menschen an spezifischen Herz-Kreislauf-Erkrankungen gestorben“, blickt er auf die Statistik. Entsprechend des jährlichen Herzberichts gab es 2019 etwa 1,75 Mio. stationäre Krankenhaus-Aufnahmen wegen Problemen am Herzen. „Ein frühes Erkennen, eine Risikoanalyse und schnellstmögliche Therapie – oder Prophylaxe – können Leben retten“, so der Kardiologe Kelle.
Autor: Hans-Otto von Wietersheim, Bretten