„Den Menschen in den Mittelpunkt technologischer Entwicklungen stellen“
01.12.2020 - Die Telemedizin sollte im gesamten Krankenhauskontext und seinen Veränderungen betrachtet werden und nicht nur im Hinblick auf seine funktionale technische Praxis.
Dieser Ansicht ist Dr. Bettina-Johanna Krings, Senior Scientist (Soziologie) am Institut für Technikfolgenabschätzung (ITAS) am Karlsruher Institut für Technologie (KIT). Hier genau setzt die Technikfolgenabschätzung (TA) an, in dem sie auf die sozio-technischen Veränderungen des gesamten Kontextes eingeht und diese ganzheitlich analysiert.
M&K: Die Corona-Pandemie beschleunigt bekanntermaßen die Digitalisierung in Deutschland, auch im Gesundheitswesen. Das sicherlich bekannteste Beispiel ist die Online-Sprechstunde. Wie beurteilen Sie die Entwicklung der Telemedizin seit Beginn der 2000er Jahre?
Dr. Bettina-Johanna Krings: Charakteristisch für Anwendungen in der Telemedizin ist die Tatsache, dass die zu untersuchende, bzw. zu behandelnde Person und das medizinische Team getrennt sind und über Informationstechnologien vernetzt werden. Das ist ja zunächst ein unglaublicher Fortschritt, denn diese digitalen „Verbindungen“ erlauben es, Erstdiagnosen und -behandlungen oder Ähnliches durchzuführen. So war eine der ersten (erfolgreichen) Anwendungen Mitte der 2000er Jahre die Teleradiologie (Tele-Röntgenologie), die eingeführt wurde. Das Ergebnis der Teleradiologie war die Erstellung von Daten (CT oder MRT) oder eines digitalen Films, die zu einem Experten versendet werden konnte (z.B. über standardized DICOM protocol), um diese Daten zu analysieren. Die Daten wurden also nicht vor Ort ausgewertet, sondern die Auswertung wurde an anderen Orten durchgeführt. Hierbei stellte sich schnell das Prinzip ein, dass diese Daten in Länder versendet wurden, wo die Konditionen günstiger waren, z.B. in Indien.
Viele weitere Beispiele folgten in teilweise (hoch)spezialisierten Bereichen wie beispielsweise der Telekardiologie. Die dabei gemachten Erfahrungen bestimmen heute sehr stark die Möglichkeiten der Telemedizin. Hierbei – und das ist ein wichtiger Punkt – werden die „Tele-Aspekte“ sehr unterschiedlich funktional eingebunden: während in der Telekardiologie der Patient von einem angesehenen Kardiologen profitiert, der ihn von einem entfernten Ort operieren kann, weist das Beispiel der Teleradiologie auf die Möglichkeit der Krankenhäuser, die Röntgenaufnahmen zu günstigeren Konditionen auswerten zu lassen. Die Möglichkeit der Datenübertragung hat u.a. dazu geführt, dass in den Krankenhäusern eine Reihe von Dienstleistungen (Labore etc.) ausgelagert wurden.
Interessant an der aktuellen Situation ist, dass die Corona-Pandemie wie ein Katalysator wirkt, d.h. die Erwartungen und Hoffnungen, die sich an diese Form der Krankenbehandlungen binden, werden nun sehr dezidiert nachgefragt. Hier bietet die Digitalisierung freilich sehr großes Potential, um die Anforderung des „social distancing“ einzuhalten. Dennoch sollte m.E. auch kritisch geschaut werden, welche Aspekte der Telemedizin übernommen werden sollten und welche nicht.
Welche Chancen bietet die Telemedizin besonders im Krankenhaus?
Krings: Die Telemedizin bietet aus einer technischen Perspektive viele Optionen im Krankenhaus: Kosteneinsparungen durch das Auslagern von Einheiten wie Labore, da die digitalen Daten versendet werden können (neue Formen der Arbeitsteilung); Durchführung von Behandlungen durch (internationale) Experten in unterschiedlichen Fachgebieten (z.B. Telechirurgie); Entwicklung von medizinischen Schwerpunkten, in dem Expertisen gebündelt und zusammengeführt werden (medizinische Spezialisierung von Krankenhäusern); neue Zusammenschlüsse medizinisch-technischer Zentren (Transformationen medizinischer Behandlungsformen in Richtung High-Tech-Medizin) und vieles mehr.
Ihr Institut ist auf die Technikfolgenabschätzung spezialisiert. Wo sehen Sie denn Schwächen und Risiken bei der Telemedizin? Was muss geschehen, um diese Risiken zu verkleinern?
Krings: Arbeiten und Studien zur Telemedizin weisen heute schon auf ein unglaubliches Transformationspotential in den Krankenhäusern hin, welches viele Bereiche erfasst. Hierbei sind die Grenzen zu neuen Formen digitaler Anwendungen in diesem Kontext fließend. Diese Eingriffstiefen berühren beispielsweise die neue Rolle vernetzter digitaler Systeme im Rahmen der medizinisch-pflegerischen Expertise und damit auch die des technischen Personals in Krankenhäusern. Hier verändern sich ganze Berufsbilder. Es kommt zu neuen Formen der Arbeitsteilung in medizinisch-pflegerischen Teams: die medizinische Expertise wird stark betont. Kostenstrukturen verändern sich auf Basis technologischer Optionen; technologische Verfahren werden aufgewertet – und globale Expertennetzwerke mit einer hohen Spezialisierung aufgebaut. Diese Aspekte zeigen sehr schön, dass die Telemedizin im gesamten Krankenhauskontext und seinen Veränderungen betrachtet werden sollte und nicht nur im Hinblick auf seine funktionale Praxis. Das wird leider sehr wenig gemacht, stattdessen werden die sozialen und organisationalen Aspekte dieser Veränderungen häufig ausgeblendet. Hier genau setzt die TA an, in dem sie auf die sozio-technischen Veränderungen eingeht und diese ganzheitlich analysiert.
Welche telemedizinischen Anwendungen halten Sie in Zukunft für sinnvoll und notwendig, die es so in Deutschland noch nicht gibt?
Krings: Ich halte viele technische Anwendungen für sinnvoll. Ein Beispiel, das in einem Projekt bearbeitet wird, in dem ich im wissenschaftlichen Beirat bin, sind telemedizinische Anwendungen in ländlichen Räumen, die durch Überalterung gekennzeichnet sind wie beispielsweise im Norden oder im Osten des Landes. Hier könnte Telemedizin in Zukunft eine wichtige Rolle für den Erstkontakt zu Ärzten oder Pflegepersonal spielen, denn seit Jahren werden hier wichtige Infrastrukturen abgebaut. In diesen Regionen ist die medizinisch-pflegerische Versorgung nicht mehr vorhanden, bzw. zu dem Preis großer Entfernungen. Erstkontakte, Erstdiagnosen über telemedizinische Systeme zur Versorgung alter Menschen haben sich beispielsweise in skandinavischen Ländern schon sehr bewährt. Hier könnte man m.E. von diesen Erfahrungen lernen. Dasselbe gilt für Telechirurgie, wo Patienten von hochkarätiger Expertise profitieren können ohne weite Reisen auf sich nehmen zu müssen. Es kommt immer darauf an, vor welchen Prämissen sozio-technische Systeme entwickelt werden sollen – dienen sie dem Wohle der Patienten? Dienen sie dazu, effiziente Strukturen einzuführen? Welches sind die Nachteile/Vorteile? Diese Antwort gilt es zu klären und/oder mit den entsprechenden Akteuren im Feld auszuhandeln.
Welche Rolle spielt künstliche Intelligenz (KI) in telemedizinischen Anwendungen – aktuell und zukünftig? Welche Risiken sehen Sie dabei?
Krings: KI spielt hier genau die Rolle, die es auch in anderen Bereichen spielt: „künstliche Intelligenz“ ist beispielsweise in der Lage, Datenvolumen (schnell) zu durchforsten, Ähnlichkeiten/Unterschiede zu aktuellen Befunden herzustellen, Entscheidungen „zu treffen“, ergo Diagnosen zu stellen und spezifische Anwendungen vorzuschlagen etc. So automatisieren diese Systeme auf der einen Seite höchst effizient diagnostische Verfahren und werden in vielfältigen medizinischen Feldern beispielsweise in der Diagnostik (Krebsdiagnose) schon gewinnbringend eingesetzt. Auf der anderen Seite verändern sich dadurch rasant diese Felder im Hinblick auf eine starke technologische Ausrichtung medizinischer Anwendung (Co-Entwicklung digitaler Technologien mit Robotik und medizinischen Technologien), die wichtige Entwicklungen mit sich bringen wie Standardisierungen, Sicherheitsprobleme und/oder Quantifizierungstendenzen im Rahmen subjektiv zu ermittelnder Gesundheitsaspekte.
Auch hier - ähnlich wie bei den Verlautbarungen zu Industrie 4.0 - gilt, der „Mensch sollte in den Mittelpunkt der technologischen Entwicklungen gestellt werden. Was das angesichts der rasanten Entwicklungen der technologischen Felder heißt, würde allerdings m.E. deutlich mehr ethische, soziale und politische Debatten benötigen, bzw. es sollten hier auch neue Fragestellungen entwickelt werden.
Zur Person
Dr. phil. Bettina-Johanna Krings, Senior Scientist (Soziologie) am Institut für Technikfolgenabschätzung (ITAS) am Karlsruher Institut für Technologie (KIT). Von 2011 - 2019 hatte sie die Co-Leitung des Forschungsbereichs „Wissensgesellschaft und Wissenspolitik“ inne. Seit 2009 hat sie das Themenfeld „Technik und Arbeit“ am ITAS aufgebaut, welches die Folgen der Informationstechnologien auf Arbeits- und Organisationsstrukturen in vielfältiger Weise beforscht. Die Expertin in Gremien zu Digitalisierungsprozessen und seinen sozialen und ethischen Folgen in unterschiedlichen Bereichen (z.B. Dorf 4.0) wendet seit zehn Jahren diese Expertise auch auf den Bereich Pflege und Medizin an.
Autor: Arno Laxy, München