Die Digitalisierung im Gesundheitswesen: angekommen, um zu bleiben
06.12.2024 - Der TI-Atlas 2024 zeigt: Fakten schaffen Akzeptanz und digitaler Fortschritt findet statt.
Wer sich den TI-Atlas (Telematikinfrastruktur-Atlas) 2024 anschaut, kann dies mindestens auf zweierlei Art tun. Er oder sie liest die offizielle Mitteilung der Gematik und einige hauptsächlich darauf basierende Veröffentlichungen. Der Blick richtet sich in diesem Fall stark auf die „ePA für alle“, wie Bundesgesundheitsminister Prof. Dr. Karl Lauterbach sein verändertes Konzept für die elektronische Patientenakte (ePA) nennt. Kern ist bekanntlich eine verpflichtende ePA für alle gesetzlich Versicherten mit Opt-Out-Option. Sie soll in wenigen Wochen, Anfang 2025 eingeführt werden. Zunächst in Modellregionen und nach erfolgreichem Start wenige Wochen später bundesweit. Da sie unmittelbar fast 90% der Bevölkerung, über 70 Mio. Bürger betrifft, ist es richtig und wichtig, sich mit ihr zu befassen.
Wer sich etwas mehr Zeit nimmt, wirft hingegen einen genaueren Blick auf die Studienergebnisse und erfährt über das TI-Atlas Dashboard erstaunlich Erfreuliches. Denn entgegen einer weit verbreiteten Skepsis gegenüber den Fortschritten bei der Digitalisierung im Gesundheitswesen, ist diese in den Jahren 2021 bis 2024 ein großes Stück vorangekommen. Die dafür verantwortliche Digitalagentur Gematik fragt in dem TI-Atlas zahlreiche Bereiche ab und hat dafür Kategorien geschaffen, um die Bereiche über die Jahre vergleichen zu können.
Der TI-Readiness-Index konzentriert sich auf die technische Infrastruktur. Noch vor wenigen Jahren war die Telematikinfrastruktur (TI), deren technische Komponenten und die im Zuge der Einführung bzw. des Betriebs immer wieder auftretenden Störungen ein Hauptthema der Diskussionen, wenn es um die Digitalisierung im Gesundheitswesen ging. Konnektoren als Hardware waren und sind in einer Übergangsphase für den Zugriff auf die Telematikinfrastruktur (TI) erforderlich. Mit dem im Herbst 2021 von der Gematik-Gesellschafterversammlung beschlossenen TI 2.0-Konzept, das zentrale Elemente hardwareunabhängig macht, sollen bis Ende 2025 die TI-Dienste direkt über das Internet erreichbar sein und ab 2026 die alte Infrastruktur zurückgebaut werden. Das neue Konzept hat auch neuen Schwung in die Digitalisierung im Gesundheitswesen gebracht, wie der TI-Readiness-Index zeigt.
TI einsatzbereit – ja, mit wenigen Einschränkungen
Als 2021 erstmals Daten für den TI-Atlas erhoben wurden, bot sich ein fast schon deprimierendes Bild. Nach bald zwei Jahrzehnten voller Diskussionen und Versuche, die Digitalisierung im Gesundheitswesen voranzubringen, waren gerade einmal 33% der Arzt- und 28% der Zahnarztpraxen TI-ready. Das bedeutet in der Definition der Gematik mit funktionsfähigem TI-Anschluss, inklusive einsatzbereitem Konnektor und Heilberufsausweis sowie mindestens einer installierten TI-Anwendung. Damit lagen sie aber noch weit vor psychotherapeutischen Praxen (11%), Apotheken (10%) und Krankenhäusern (6%). In der nächsten Kategorie – „semi-TI-ready“ – ist der TI-Anschluss vorhanden und der Konnektor einsatzbereit, aber der Heilberufsausweis nicht voll einsatzbereit oder keine TI-Anwendung installiert. Hier ergibt sich ein erfreulicheres Bild mit 69% bei Apotheken und Krankenhäusern, 61% bei Psychotherapeuten, 53% bei Zahnarztpraxen und 38 % bei Arztpraxen. Die restliche Prozentpunkte verteilen sich zwischen eingeschränkt TI-ready und „kein TI-Anschluss vorhanden“.
Der aktuelle vierte TI-Atlas bietet völlig andere Werte von durchweg über 90% bei der vollen und „semi“ Einsatzbereitschaft: Apotheken sind zu 85% voll und 12% semi-TI-ready, Zahnarztpraxen kommen auf Werte von 81% und 12%, Krankenhäuser folgen mit 75% und 20%. Arztpraxen sind immer noch zu 70% voll und 23% semi-einsatzbereit und selbst psychotherapeutische Praxen sind zu über der Hälfte (53%) voll und über einem Drittel (37%) semi-einsatzbereit. In nur drei Jahren hat sich das Bild also umgedreht. Das liegt sicherlich zum Teil am Digitalisierungsschub durch die Corona-Pandemie, aber mehr wohl noch an der stringenten, stufenweisen, aber verpflichtenden Einführung von TI-Bestandteilen wie dem E-Rezept, der eAU (elektronische Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung) oder auch der sicheren Kommunikation mit KIM.
Der TI-User-Index: Wie weit sind Workflows und Kommunikation digitalisiert?
Mit dem TI-User-Index erfasst die Gematik die Tiefe und Breite der Unterstützung unterschiedlicher Workflows und Kommunikationen durch die TI-Infrastruktur. Je nach Art und Umfang ordnet sie diese Ergebnisse in starke, mittlere und geringe oder keine Nutzung der TI ein. Die Kategorie „Digitalunterstützung Workflows & Kommunikation zwischen Leistungserbringern & Bereitstellung von Information durch/für Versicherte (ePA, NFDM)“ ist derzeit eher als Zielvorgabe zu sehen - mit reichlich Potenzial für höhere Werte in zukünftigen Erhebungen. Gerade 3% der befragten Krankenhäuser, 4% der Zahnarztpraxen und 7% der Arztpraxen würden hier mit einer „starken Nutzung“ punkten können, wenn das Bundesgesundheitsministerium oder die Gematik dafür Medaillen vergeben würde. Apotheken und psychotherapeutische Praxen haben jeweils 0%. Nächstes Jahr dürfte sich ein ganz anderes Bild ergeben, wenn die ePA für alle gesetzlichen Versicherten verpflichtend eingeführt sein wird.
Bei der Kategorie „Digitalunterstützung Workflows & Kommunikation zwischen Leistungserbringern“ bestehen mittlerweile reale Anwendungsfälle, was zu höheren Nutzungsgraden führt. Einrichtungs- und sektorübergreifende Dienste für die Kommunikation im Gesundheitswesen (KIM) wie eNachrichten und eArztbriefe (mittlere Nutzung) verwenden demnach 71% der Zahnarztpraxen, 57% der Arztpraxen, 21% der Apotheken und 10% der Krankenhäuser. Immerhin fallen psychotherapeutische Praxen mit 1% nicht ganz durchs Raster. Unter geringe Nutzung ordnet die Gematik digital unterstützte Workflows im Gesundheitswesen für Pflichtformulare ein, wie die eAU, E-
Rezept, EBZ und Dale-UV. Die Nutzungsraten reichen hier von wenig verwunderlichen 70% bei Apotheken, 23 % und 20% bei Arztpraxen und Krankenhäusern sowie 10% und 3% bei Zahnarztpraxen und psychotherapeutischen Praxen. Je geringer die Akzeptanz und die Einsatzmöglichkeiten, desto größer der Wert für „keine Nutzung“. Er liegt bei 89% bei den Psychotherapeuten und bei 65% bei den Krankenhäusern.
TI-Anwendungen: Bekanntheit und Nutzung von KIM-Diensten
Über Dienste für Kommunikation im Medizinwesen (KIM) soll künftig ein Großteil des Informationsaustausches zwischen Apotheken, Ärzten, Krankenhäusern, Psychotherapeuten, oder Pflegeeinrichtungen laufen. Diese Dienste erreichen in Arztpraxen und Zahnarztpraxen Bekanntheitswerte von knapp unter 100% und fast ähnlich hohe Werte bei der Frage, ob das Modul mindestens einmal genutzt wurde. Ähnlich hohe Bekanntheitsgrade weisen KIM-Dienste in Apotheken (91%) und Krankenhäusern (94%) auf, allerdings schon niedrigere (83%) oder deutlich niedrigere Werte für die mindestens einmalige Verwendung der Module in Krankenhäusern (83%) und Apotheken (59%). Die Antworten aus psychotherapeutischen Praxen - niedrigere Werte bei Bekanntheit (84%) und sehr niedrige Werte bei der Verwendung eines KIM-Dienstes (24%) – weisen auf die weiterhin skeptische Haltung von Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten hinsichtlich der Vertrauenswürdigkeit und Datensicherheit der TI-Infrastruktur im Allgemeinen hin. Aber auch darauf, dass letztere zumeist noch keinen wirklich Anwendungsfall erkennen können. Denn Arztpraxen benötigen seit dem Jahresanfang einen KIM-Dienst unter anderem für die verpflichtend eingeführte elektronische Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung und das e-Rezept sowie den eArztbrief. Nur wenn sie diese TI-Anwendung nutzen, erhalten sie die volle Pauschale der Telematikinfrastruktur zu erhalten.
Die vierte Kategorie, Datensicherheit, wurde 2024 nicht abgefragt. Der Telematik-Infrastruktur-Atlas (TI-Atlas) wurde von der Gematik im Juli 2024 vorgestellt. Knapp 12.700 Einrichtungen und Organisationen des Gesundheitswesens beteiligten sich an der Befragung, außerdem 1.834 Versicherte in der repräsentativen Gruppe und 1.031 Personen in der medizinisch relevanten Gruppe.
Autor: Arno Laxy, Wiesbaden