Die Schweizerische Multiple Sklerose Gesellschaft verleiht ersten MS-Forschungspreis
30.01.2023 - Als besonderes Highlight am diesjährigen „State of the Art Symposium" vom 28. Januar 2023 wurde der erste Forschungspreis der Schweizerischen Multiple Sklerose Gesellschaft verliehen. Der Preis ist mit 100.000 CHF dotiert und geht an Prof. Jens Kuhle und Prof. Tobias Derfuss.
Mit dem Preis werden Forschungspersönlichkeiten geehrt, die auf dem Gebiet der MS bahnbrechende Erkenntnisse gewinnen konnten. Das Preiskomitee 2023 war sich einig: Prof. Jens Kuhle und Prof. Tobias Derfuss (beide Universitätsspital Basel und Mitglieder des Medizinisch-Wissenschaftlichen Beirats der Schweiz. MS-Gesellschaft) stachen mit ihren außergewöhnlichen Beiträgen zur MS-Forschung und mit ihrem großen Engagement für MS-Betroffene heraus. Mit diesem Forschungspreis, der dieses Jahr zum ersten Mal verliehen wird, setzt die Schweiz. MS-Gesellschaft ein weiteres starkes Zeichen für die MS-Forschung.
Die Schweiz. MS-Gesellschaft gratuliert Prof. Derfuss und Prof. Kuhle herzlich zum Forschungspreis. Dank Forschern wie ihnen dürfen MS-Betroffene Hoffnung haben, dass Multiple Sklerose in Zukunft kein lebensbestimmendes Schicksal mehr sein muss, sondern immer besser therapiert werden kann.
Wir haben die beiden Neurologen, die am Universitätsspital Basel praktizieren und forschen, zum Gespräch gebeten.
Prof. Kuhle, Prof. Derfuss, herzlichen Glückwunsch zum Forschungspreis! Können Sie in aller Kürze zusammenfassen, was Ihre jeweils wichtigsten Forschungsschwerpunkte sind?
Prof. Jens Kuhle: Vielen herzlichen Dank für diesen Preis! Es ist eine große Ehre, diesen bei der ersten Ausschreibung verliehen zu bekommen. Meine Arbeitsgruppe koordiniert die Schweizerische MS Kohortenstudie (SMSC) seit nun zehn Jahren in acht großen Spitälern der Schweiz. Im Rahmen der SMSC werden über 1.500 MS-Betroffene alle sechs oder zwölf Monate systematisch und standardisiert nachuntersucht und die Daten erfasst und kontrolliert. Diese systematische und langjährige Erfassung ist ein ganz wichtiges Instrument, das zum besseren Verständnis und zur effizienteren Behandlung der MS beitragen kann. Zum anderen beschäftigen wir uns mit sogenannten Biomarkern, also Veränderungen, die im Blut oder Hirnwasser gemessen werden. Sie können den Krankheitsverlauf und zum Beispiel das Ansprechen auf verschiedene Therapien besser messbar machen. Mit der Etablierung eines besonders sensitiven Messverfahrens für Abbauprodukte von Nerven im Blut, den sogenannten Neurofilamenten, konnten wir entscheidend zur Entwicklung dieses Biomarkers zur Anwendung in der Klinik beitragen. Dieses Projekt wird von Anfang an von der Schweizerischen MS-Gesellschaft auch finanziell mitgetragen.
Prof. Tobias Derfuss: Vielen Dank für diesen Preis auch von meiner Seite! Die Rolle von B-Zellen bei der Entstehung der MS und die Suche nach Autoantikörpern und Autoantigenen liegen in meinem Forschungsfokus. Wir wollen verstehen, wie die Multiple Sklerose entsteht: Was sind Trigger, welches Antigen löst die Autoimmunreaktionen aus? Wir haben einige interessante Ergebnisse, die zwar noch nicht die endgültige Lösung des Mysteriums MS sind, aber zeigen, dass wir auf dem richtigen Weg sind. In Langzeitstudien untersuchen wir außerdem, wie sich das Immunsystem von MS-Betroffenen unter Therapie verändert und wie das wiederum Aussagen über das Behandlungsansprechen, aber auch über die Krankheitsentstehung liefern kann. Jens schaut sich primär die löslichen Biomarker im Nervenwasser oder im Blut an, also Eiweiße, die Immunzellen oder generell Zellen im Körper produzieren. Wir schauen uns die Zellen selber an. Da Jens sich praktisch um die Kohorte kümmert und uns die Proben zur Verfügung stellt, arbeiten wir eng zusammen. Wenn die Proben nicht da wären, die Daten nicht standardisiert aufbereitet würden, könnte ich nicht forschen.
Was motiviert Sie dazu, sich so engagiert der MS-Forschung zu widmen?
Prof. Derfuss: Bei mir hat die Faszination schon im Studium begonnen, als ich in einer Vorlesung zur Multiplen Sklerose saß. Der Professor referierte über die ungleiche Verteilung der Multiplen Sklerose in der Welt. Das fand ich so spannend wie mysteriös. Ich wollte herausfinden, was die Ursachen dahinter sind.
Prof. Kuhle: Einerseits beeindruckte mich der massive Fortschritt bei der Anzahl Medikamente, seitdem ich Anfang 2000 im Feld der MS zu arbeiten begann. Andererseits finde ich es fast etwas beschämend, wie hilflos wir heute bei der Entscheidung sind, wer wann mit welcher Therapie beginnen soll oder ob wir Medikamente sogar wieder absetzen können. Es besteht durchaus die Möglichkeit, dass die Krankheitsaktivität bei einzelnen Betroffenen von selbst derart zurückgeht, dass sie symptomfrei werden, wir das aber als Effekt einer Therapie fehlinterpretieren. Da vorwärts zu kommen, ist meine Motivation.
Dieser Gegensatz beschäftigt auch uns bei der MS-Gesellschaft und natürlich alle Betroffenen immer wieder stark: Die MS-Forschung schreitet stetig voran, dennoch ist die genaue Ursache der Multiplen Sklerose nach wie vor nicht vollständig verstanden, eine Heilung wurde noch nicht gefunden. Was macht es so schwer, hier Antworten zu finden?
Prof. Derfuss: Die Multiple Sklerose ist eine sehr heterogene Erkrankung, die wahrscheinlich verschiedene Auslöser bei den einzelnen Betroffenen hat und eine stark unterschiedliche Zusammensetzung aus Ursachen. Wir wissen beispielsweise, dass die Genetik eine Rolle spielt. Wir wissen jedoch auch, dass Umweltfaktoren hinzukommen: Rauchen ist ein Risikofaktor für MS, ebenfalls erhöht eine Infektion mit dem Epstein-Barr-Virus (EBV) das Erkrankungsrisiko. Deshalb ist es wohl auch so schwierig, eine klare Ursache zu finden: Es gibt wohl schlicht nicht diese eine Ursache, welche die Autoimmunreaktion auslöst, sondern am Ende sind es verschiedene.
Haben Sie denn ein Gefühl oder eine Einschätzung dafür, wie lange es noch gehen könnte, bis man eine Heilung für die MS findet?
Prof. Derfuss: Die eine Frage ist, ob man den Ausbruch der Krankheit verhindern kann. Das hängt etwa davon ab, ob eine EBV-Infektion ein notwendiger Trigger ist oder nicht. Wenn es das wäre, könnte man sich vorstellen, dass eine Impfung gegen EBV die Multiple Sklerose verhindern könnte. Um das allerdings gesichert herauszufinden und allenfalls einen Impfstoff zu entwickeln, braucht es noch jahrzehntelange Forschungsarbeit.
Ist die Multiple Sklerose nun aber bereits ausgebrochen, kann man sich vorstellen, dass man Betroffene durch eine frühe, effiziente Behandlung tatsächlich auch heilen können wird. Wir kennen einige Betroffene aus der Praxis, bei denen nichts mehr passiert: Das MRI, die klinischen Symptome, der Biomarker sind über Jahre hinweg stabil.
Es kann sein, dass einige von ihnen zu einem Zeitpunkt behandelt wurden, zu dem man durch eine effektive Immunintervention die Erkrankung früh stoppen konnte. Ich bin zuversichtlich, dass wir das bald herausfinden werden.
Prof. Kuhle: Ein dritter Fall bezieht sich auf Betroffene nach langjähriger, hocheffektiver Therapie. Wir sehen Personen, die über viele Jahre einen stabilen MS-Verlauf haben. Zurzeit sind wir aber nicht in der Lage, sicher zu beurteilen, ob das so bleibt und ob es mit vertretbarem Risiko möglich ist, eine laufende Behandlung zu ändern oder zu unterbrechen. Deshalb versuchen wir alle möglichen Auswirkungen der MS auf das Leben der Betroffenen nicht nur in der Sprechstunde über die genaue klinisch-neurologische Untersuchung, sondern neuerdings auch durch die aktive Mitarbeit der Betroffenen selbst mit Hilfe ihres Smartphones oder einer Smartwatch zu erfassen. Dazu kommen Informationen aus MRI-Untersuchungen mit neuen Verfahren und Bestimmungen von Flüssigbiomarkern im Blut, die uns helfen, hinter die Kulissen zu schauen, d.h. Auswirkungen zu erkennen möglichst bevor es zu Funktionsstörungen kommt. So kommen wir unserem Ziel einer möglichst den individuellen Bedürfnissen angepassten, „personalisierten" Behandlung näher.
Durch den Forschungspreis der Schweiz. MS-Gesellschaft erhalten Sie je 50.000 CHF zweckgebunden für Ihre Forschungsarbeit. Wie setzt man solche Forschungsgelder genau ein?
Prof. Kuhle: Letztlich investieren wir den größten Anteil in Forschungsmitarbeitende und in Forschungsinstrumente. Nur so können die Forschungsprojekte auch in Zukunft vorangebracht werden. Das Preisgeld ermöglicht es uns auch, Projekte auf sicherere Beine zu stellen. Mit mehr Mitteln können wir etwa die Schweizerische MS Kohortenstudie modular ausbauen. So haben wir bereits begonnen, bei allen mitmachenden Betroffenen systematisch Blutzellen zu sammeln, damit Tobias und andere daran forschen können. Das ist für unsere Laborantinnen und Laboranten viel aufwendiger als die Blutflüssigkeit zu sammeln und tiefzugefrieren.
So kann man zum Beispiel „extreme Phänotypen" aus einer Kohorte raussuchen, also Personen, die einen besonders schweren oder gutartigen Krankheitsverlauf haben. Unterscheiden sich diese Personen bezüglich der untersuchten Zellenmerkmale oder anderer Biomarker, erhält man wichtige Hinweise dafür, wie die Krankheit „funktioniert".
Das klingt einfach, aber es erfordert, dass man sehr viele MS-Betroffene systematisch über längere Zeiträume begleitet und ihre Krankheitsverläufe und Bioproben standardisiert dokumentiert. Am Ende des Tages kostet das alles Personal, Laborausrüstung, Infrastruktur. Ohne die kontinuierliche und relevante finanzielle Unterstützung durch die Schweiz. MS-Gesellschaft wäre die Arbeit der zurückliegenden Jahre nicht möglich gewesen.
Wagen wir einen Blick in die Zukunft: Was möchten Sie den MS-Betroffenen in fünf Jahren zu Ihrer Forschung gerne mitteilen dürfen?
Prof. Kuhle: Ich möchte MS Betroffenen immer zuverlässigere Informationen geben können, um auf einer soliden Grundlage gemeinsam Entscheidungen über die optimale Behandlung treffen zu können. Ich glaube, dass wir Medikamente miteinander kombinieren können und so die langsam schleichende Verschlechterung in einem höheren Prozentsatz als bisher stoppen können. Das ist ein sehr hoch gestecktes Ziel, aber in den nächsten Jahren sind Fortschritte realistisch.
Prof. Derfuss: Was meine eigene Forschung angeht, ist es sicher Autoantikörper und Autoantigene zu definieren und zu identifizieren, um so eine bessere Aufschlüsselung der MS-Betroffenen vornehmen zu können. Wir möchten Subgruppen von Betroffenen finden, anhand derer wir präzisere Prognosen und informierte Therapieentscheide treffen können. Da sind wir auf einem sehr guten Weg.
Prof. Kuhle und Prof. Derfuss: Wir danken der Schweizerischen Multiple Sklerose Gesellschaft nicht nur für die besondere Ehrung mit dem Forschungspreis, sondern für die so wichtige kontinuierliche finanzielle Unterstützung der MS-Forschung in der Schweiz. Ohne diese Unterstützung wäre die MS-Forschung auf diesem hohen Niveau nicht möglich.
Herzlichen Dank für das Gespräch!
Kurzinfo zu Prof. Tobias Derfuss
Prof. Tobias Derfuss ist klinischer Neurologe mit der Spezialisierung auf Neuroimmunologie. Seine klinische Ausbildung erhielt er an der Klinik für Neurologie des Klinikums Großhadern in München. Seit 2010 ist er Professor und Leiter der Poliklinik an der Klinik für Neurologie und Forschungsgruppenleiter am Departement Biomedizin der Universitätsklinik Basel.
Neben seiner klinischen Tätigkeit hat er an einer großen Anzahl klinischer Studien zu neuen MS-Medikamenten mitgewirkt. In seiner experimentellen Forschung am Departement Biomedizin der Universität Basel beschäftigt er sich mit der Rolle von B-Lymphozyten und Antikörpern bei der MS und anderen neuroimmunologischen Erkrankungen.
Er arbeitet zudem an der Entwicklung und dem Einsatz von neuen Biomarkern, die die Diagnose, Prognose und das Therapieansprechen verbessern sollen.
Kurzinfo zu Prof. Jens Kuhle
Prof. Jens Kuhle hat an der Eberhard-Karls-Universität in Tübingen studiert und promoviert und sich am Universitätsspital Basel auf Neurologie und Neuroimmunologie spezialisiert. Von 2012bis 2014 war er im Rahmen seiner Forschung an der Queen Mary Universität in London tätig. Im Jahr 2018 wurde er zum Leiter des Multiple-Sklerose-Zentrums am Universitätsspital Basel ernannt. Er ist leitender Arzt der neurologischen Klinik und seit 2019 Professor für Neurologie. Er leitet die Schweizer MS-Kohortenstudie, ein nationales klinisch-akademisches Netzwerk, das sich der Biomarker- und Outcome-Forschung bei MS widmet.
Der Forschungspreis der Schweiz. MS-Gesellschaft wird alle zwei Jahre an eine Forscherin oder einen Forscher aus einem Schweizer Forschungsinstitut oder einer Schweizer Klinik vergeben. Deren Arbeit in der Grundlagen- oder klinischen Forschung soll dabei bahnbrechende Erkenntnisse zur Ätiologie, Pathophysiologie, Diagnose oder Behandlung der Multiplen Sklerose erbracht und somit einen bedeutenden Beitrag im Interesse von Menschen mit MS geleistet haben.
Das Preisgeld wird für die MS-Forschungsprojekte der Preisträgerschaft eingesetzt. Die Wahl erfolgt durch ein Expertenteam, das vom Medizinisch-wissenschaftlichen Beirats der Schweiz. MS-Gesellschaft ernannt wird.
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