Digitale Medizin braucht nachhaltigen Datenzugang
04.10.2021 - 670 Wissenschaftler diskutierten Ende September anlässlich der gemeinsamen Jahrestagung von GMDS und TMF die Herausforderungen und Chancen der Digitalisierung im Gesundheitsbereich.
Die Digitalisierung der Medizin birgt große Potenziale, denn digitale Gesundheitsdaten bilden eine wesentliche Grundlage für Innovation in der Medizin. Die systematische Nutzung digitaler Daten, unter anderem für Künstliche Intelligenz (KI)-Anwendungen zum Aufbau lernender Gesundheitssysteme und für das Pandemiemanagement, kann helfen, die Diagnose, Prävention und Therapie von Krankheiten weiterzuentwickeln und zielgerichteter auf das einzelne Individuum zuzuschneiden. Das Motto der Tagung „Digitale Medizin. Erkennen, Verstehen, Heilen“ spiegelt die Chancen wider, die sich aus der Digitalisierung für Ärzte, Patienten sowie für Forschende in der Medizin ergeben. Die Tagung wurde gemeinsam von der Deutschen Gesellschaft für Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie (GMDS) und der Technologie- und Methodenplattform für die vernetzte medizinische Forschung (TMF) ausgerichtet.
„Um die künftigen Herausforderungen der Medizin besser adressieren zu können, haben sich Experten aus unterschiedlichsten Disziplinen, von der Medizinischen Informatik über die Biometrie und die Epidemiologie bis hin zu den Sozialwissenschaften, bei der Konferenz ausgetauscht mit dem Ziel, gemeinsam Lösungen für eine nachhaltige Digitalisierung der medizinischen Forschung zu erarbeiten“, erläutert Prof. Dr. Alfred Winter, Präsident der GMDS, die Bedeutung der interdisziplinären Konferenz. „Wichtig ist der Aufbau nachhaltiger Dateninfrastrukturen, die nicht nur der Versorgung, sondern auch der Forschung einrichtungsübergreifend standardisierte Daten in hoher Qualität zur Verfügung stellen. Dafür muss die Trennung zwischen Forschung und Versorgung zunehmend überwunden werden, was mit rezenten Entwicklungen wie der Einführung der forschungskompatiblen elektronischen Patientenakte und dem Aufbau der Datenintegrationszentren der Medizininformatik-Initiative in greifbare Nähe rückt“, so Prof. Dr. Michael Krawczak, TMF-Vorstandsvorsitzender und einer der Tagungspräsidenten.
Hochrangige Referenten aus dem In- und Ausland befassten sich in neun Keynotes, 23 Vortragssessions, drei Paneldiskussionen und 15 Workshops mit technischen und methodischen Fragen zu Datenmanagement und Datenanalyse ebenso wie zu Datenschutz und Datensicherheit. Außerdem wurden die ethischen, rechtlichen und politischen Rahmenbedingungen der Forschungsnutzung von Gesundheitsdaten in Deutschland beleuchtet. Einem solchen interdisziplinären Diskurs kommt insbesondere angesichts der Einführung der elektronischen Patientenakte (ePA) in 2021 eine große Bedeutung zu.
Forschungskompatible ePA startet 2023
Ab 2023 sollen Patienten gem. § 363 SGB V die Möglichkeit haben, Teile ihrer in der ePA gespeicherten Versorgungsdaten für medizinische Forschungszwecke freizugeben. Bis dahin müssen jedoch die erforderlichen Schnittstellen zwischen ePA und Leistungserbringern, Patienten und Forschenden geschaffen werden. Lena Dimde von der Gematik erläuterte, dass ab 1.1.2022 erste strukturierte Datentypen wie z.B. Mutter- und Impfpass in der ePA vorliegen werden und ab 1.1.2023 die Datenfreigabe über ein Forschungsdatenzentrum oder, bei Vorliegen einer entsprechenden Einwilligung durch die Betroffenen, direkt in einer Leistungserbringerinstitution möglich sein wird. „Die Forschungsnutzung der ePA ist ein wichtiger Impuls für den strategischen Ausbau der Datennutzung von Versorgungsdaten und damit für eine verbesserte Verzahnung von medizinischer Forschung und Versorgung. Die vom Bund geförderte Medizininformatik-Initiative (MII) und die in ihr zusammengeschlossenen Datenintegrationszentren der Universitätsmedizin stehen bereit, diese Forschungsnutzung gemeinsam mit der Gematik zu pilotieren“, betont Sebastian C. Semler, TMF-Geschäftsführer und Leiter der MII-Koordinationsstelle.
Hoffnungsträger Künstliche Intelligenz
Im letzten Jahrzehnt hat eine wahrhaftige Revolution computergestützter Ansätze in der Medizin stattgefunden. Heute besteht weitgehender Konsens, dass KI viele Bereiche des Gesundheitswesens grundlegend verändern wird. „Während vielfach nur die technische Leistungsfähigkeit diskutiert wird, liegt die wahre Herausforderung jedoch in der Integration der KI in die klinische Arbeitswelt und in der Akzeptanz durch die Nutzer“, erläutert Prof. Dr. Björn Bergh, Tagungspräsident für die GMDS. Auch Prof. Dr. Enrico Coiera, Direktor des Center for Health Informatics am Australian Institute of Health Innovation, mahnte in seiner Keynote an, dass Nutzerbedürfnisse stärker in das Design von KI-Anwendungen einfließen müssten, um deren Akzeptanz und Erfolgschancen zu steigern. Er erhob zudem die Forderung nach einer stärkeren Fokussierung auf die Replizierbarkeit von Studien in der Medizininformatik.
SARS-CoV-2-Pandemie zeigt die Probleme fehlender Daten auf
Die SARS-CoV-2-Pandemie hat wie unter einem Brennglas die Unzulänglichkeit der Datenlage in weiten Teilen des Gesundheitswesens und in der medizinischen Forschung in Deutschland aufgezeigt. Weitreichende politische Entscheidungen mussten ohne hinreichende Datenbasis getroffen werden. Mathematische Modellierung wurde in der Pandemie häufig als Kompensation für die schlechte Datenlage herangezogen, jedoch hängt auch die Aussagekraft mathematischer Modelle letztlich von der Qualität der ihnen zugrunde liegenden Daten ab. Hauptgrund der „Missing-Data-Krise“ während der SARS-CoV-2-Pandemie war allerding nicht ein Mangel an digitaler Dokumentation per se, sondern die weitgehende Fragmentierung der existierenden Datenbestände. Oft wurde die Schuld an diesem Missstand dem Datenschutz zugeschoben. Experten forderten während der Konferenz deshalb wiederholt Augenmaß beim Datenschutz, um die Chancen der Digitalisierung in der Medizin besser nutzen zu können. „Datenschutz darf aber nicht als Ausrede benutzt werden, um von eigenen Unzulänglichkeiten und Versäumnissen, u.a. bei der Pandemiebekämpfung, abzulenken“, so Peter Schaar, Bundesbeauftragter für den Datenschutz und die Informationsfreiheit a.D.
Dr. Friedhelm Leverkus, Director HTA & Outcomes Research bei Pfizer, sprach sich in seiner Keynote für eine engere Kooperation zwischen öffentlichen und privaten Stakeholdern in der Forschung aus. Derzeit greife man in der Impfstoff- und Medikamentenentwicklung der Pharmaindustrie häufig auf ausländische Daten zurück. Das müsse sich ändern, wünscht sich Leverkus.
„Digitalisierung muss primär der Verbesserung der Gesundheitsversorgung dienen“, merkte Prof. Dr. Jens Scholz, Vorstandsvorsitzender des Uniklinikums Schleswig-Holstein, Campus Kiel, in seinem Grußwort für die Konferenz an. „Domänen- und einrichtungsübergreifende Vernetzung, Big Data, KI und Robotics können aber auch die Forschung verbessern, so dass Forschung durch Nutzung der Chancen der Digitalisierung ebenfalls zum Patientenwohl beiträgt. Dafür müssen umgehend die notwendigen infrastrukturellen Voraussetzungen geschaffen werden.“
Weitere Informationen https://gmds-tmf-2021.de/
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