Do-it-Yourself-Lösungen für Menschen mit Diabetes sind sicher und empfehlenswert
07.02.2022 - Über 10.000 Menschen mit Diabetes weltweit nutzen unabhängig programmierte Softwarelösungen, um ihren Zuckerspiegel per Insulinpumpe automatisch einzustellen. Da diese „Do-it-Yourself-Lösungen“ bisher nicht offiziell zugelassen sind, stellt sich Behandlungsteams die Frage, wie sie Menschen mit Diabetes unterstützen können, die diese Form der „künstlichen Bauchspeicheldrüse“ nutzen.
Nun haben 48 internationale Experten aus Medizin und Recht, zu denen auch eine Teilnehmerin und zugleich Sprecherin des BIH Charité Digital Clinician Scientist Programms gehört, einen Leitfaden mit Empfehlungen entwickelt, wie Angehörige der Gesundheitsberufe diese Menschen unterstützen können. Diese Publikation ist nun in der Zeitschrift Lancet Diabetes & Endocrinology erschienen.
Etwa 350.000 Menschen in Deutschland leben mit Diabetes Typ 1: Ihre Bauchspeicheldrüse produziert kein Insulin mehr, sie müssen daher die Konzentration ihres Blutzuckers regelmäßig selbst kontrollieren und je nach Bedarf Insulin spritzen oder per Pumpe zuführen. Es ist wichtig, dass sich der Blutzuckerspiegel möglichst im Zielbereich befindet, sonst nehmen auf die Dauer Blutgefäße und Organe Schaden.
Systeme zur automatisierten Insulinabgabe (“automated insulin dosing” bzw. “AID”-Systeme) – auch “Closed-Loop” oder “Künstliche Bauchspeicheldrüse“ genannt – erleichtern Menschen mit Diabetes das Leben. Ein Sensor misst alle fünf Minuten die Glukosewerte im Gewebe, ein Algorithmus berechnet daraus sowie aus Daten der Insulinpumpe, wie sich die Glukosewerte entwickeln werden und passt automatisch die Insulindosierung an. Die Systeme gelten als die Zukunft der personalisierten und präzisen Diabetesversorgung.
We are not waiting!
„Es gibt inzwischen die ersten kommerziellen Systeme, die man ärztlich verordnen kann“, erklärt Dr. Katarina Braune, Kinderärztin an der Klinik für Pädiatrie mit Schwerpunkt Endokrinologie und Diabetologie der Charité – Universitätsmedizin Berlin und Teilnehmerin sowie Sprecherin des BIH Charité Digital Clinician Scientist Programms. „Die Zulassung neuer Medizinprodukte dauert allerdings in der Regel sehr lange, deshalb hinken sie den aktuellen technischen Möglichkeiten oft Jahre hinterher. Entsprechend lautet das Motto von Menschen mit Diabetes, die seit 2014 unabhängige Lösungen zur automatischen Insulindosierung (AID) programmieren und nutzen: ‚#WeAreNotWaiting‘.“ Katarina Braune leitet gemeinsam mit Kollegen das EU geförderte OPEN-Projekt, das die offenen Systeme wissenschaftlich untersucht und ist Erstautorin des nun veröffentlichten Konsensuspapiers. Sie betreut als Ärztin Kinder und Jugendliche mit Diabetes und lebt gleichzeitig seit ihrem 12. Lebensjahr selbst mit Diabetes Typ 1 und nutzt ein Open-Source AID-System.
Eine internationale Gemeinschaft von Menschen mit Typ-1-Diabetes und ihren Familien hat die sogenannten Open-Source AID-Systeme entwickelt. Sie haben ihren bereits vorhandenen Insulinpumpen und Glukosesensoren einen selbst programmierten Steueralgorithmus hinzugefügt, der sich entweder auf einem Smartphone oder einem Minicomputer befindet und mit der Insulinpumpe über Bluetooth oder Radiowellen verbunden ist. Die Entwickler stellen die Software der Algorithmen quelloffen und kostenlos zur Verfügung (open-source), ebenso erklären sie, wie die Software eingerichtet und individuell eingestellt wird. Zudem bietet eine stetig wachsende Online-Community von Menschen, die selbst oder deren Angehörige mit Diabetes leben, gegenseitige Unterstützung an. Durch die große Gemeinschaft an Nutzern und Entwicklern sind die Systeme immer auf dem aktuellen Stand der Technik.
Gestiegene Lebensqualität dank künstlicher Bauchspeicheldrüse
Weit über 10.000 Kinder und Erwachsene mit Diabetes weltweit nutzen bereits DIY-Systeme und berichten, dass ihre Lebensqualität gestiegen ist, seit sie ein Open-Source AID-System verwenden: Sie schlafen besser, weil sie seltener durch nächtliche Alarme geweckt werden, sie fühlen sich besser, weil deutlich seltener starke Schwankungen des Glukoseverlaufs auftreten, und ihre Glukosewerte sind deutlich öfter im empfohlenen Bereich, wodurch das Risiko für Folgeerkrankungen gesenkt werden könnte. „Anfangs waren das nur persönliche anekdotische Berichte in den sozialen Medien“, berichtet Katarina Braune, „umfassende wissenschaftliche Untersuchungen gab es bisher kaum. Das wollten wir mit dem OPEN-Projekt ändern, welches durch Menschen mit Diabetes geleitet wird und das Phänomen #WeAreNotWaiting interdisziplinär untersucht.“ Die EU fördert das OPEN-Projekt (www.open-diabetes.eu) seit 2019.
Keine offizielle Zulassung
Da sich jeder, der ein Open-Source AID-System verwenden möchte, dieses auf eigenes Risiko und auf seine persönlichen Bedürfnisse abgestimmt einrichtet, gibt es keine offizielle Zulassung. Das ist gut für die Nutzer, aber gleichzeitig stehen Vertreter von Gesundheitsberufen vor der schwierigen Frage, wie sie Menschen medizinisch betreuen können, die diese nicht-zugelassenen Systeme nutzen. „Deshalb haben wir uns entschlossen, einen internationalen Consensus mit einem Leitfaden zu erstellen, der Vertreter der Gesundheitsberufe aufzeigt, wie sie Patienten bestmöglich unterstützen können“, berichtet Katarina Braune. 48 Experten aus Medizin und Recht, die über praktische Erfahrung mit Open-Source AID verfügen, aus insgesamt 25 Ländern haben am Consensus des OPEN-Projekts mitgewirkt. Sie geben darin eine Übersicht über die aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisse, beschreiben die verwendeten Technologien, medizinethische und -rechtliche Aspekte, Vor- und Nachteile, und schaffen so einen internationalen Konsens für den Gebrauch der Systeme in der Gesundheitsversorgung. Das Konsenspapier wurde bereits von 9 nationalen und internationalen Diabetes-Fachorganisationen (ADCES, CDS, FSDS, DES, DTN, IDF Global and Europe, ISPAD, VDBD) offiziell unterstützt.
„Wir hoffen, dass wir mit unserem OPEN-Projekt und dem nun veröffentlichten Leitfaden dazu beitragen können, eventuell noch bestehende Unsicherheiten im Umgang mit diesen Systemen beseitigen zu können“, sagt Katarina Braune. „Denn die Studienergebnisse geben uns recht.“