„Eine andere innere Haltung“
medAmbiente im Gespräch mit Heidrun Berger und Rüdiger Bauer von den Regiomed Kliniken
Mit einer Stärkung und Betonung des Privaten und Wohnlichen will man weg vom Versorgungscharakter. „Wertschätzung, Empathie und Echtheit“ werden zum zentralen Anliegen, das in allen Bereichen gelebt werden soll. Ein Gespräch mit dem Führungstandem Heidrun Berger und Rüdiger Bauer.
Frau Berger, Herr Bauer, Sie denken bei Regiomed darüber nach, welche Pflege und Betreuung die Menschen brauchen, die in zehn Jahren in die Einrichtungen kommen werden. Was schwebt Ihnen hier genau vor?
Rüdiger Bauer: Wir wollen weg vom Versorgungscharakter hin zu einem Wohncharakter in den Einrichtungen. Das erfordert ein Umdenken bei uns als Mitarbeitern, das wir mit neuen Organisationsstrukturen unterstützen können. Wir brauchen aber auch ein verändertes Denken in unseren Köpfen: Als erstes müssen Begriffe wie „Station“ oder der „Wohnbereich“ verschwinden. Es muss klar werden, dass wir jeden Tag die Wohnung eines Menschen betreten, in der dieser in seiner Häuslichkeit lebt. Er kann in die Gemeinschaft gehen, aber sich auch in seine Privatheit zurückziehen. Bewohner geben den Takt der Tätigkeiten der Pflegenden vor und nicht die Organisation. Dabei hilft uns das Konzept der Kultur Kongruenter Beziehungen (KKB), das ich vor einiger Zeit entwickelt und darüber mehrfach publiziert habe und das in Einrichtungen der Altenhilfe und der Psychiatrie in Deutschland, Österreich und Slowenien mit großem Erfolg umgesetzt wird.
Sie beschreiben den von Ihnen angestrebten „Wohncharakter“ Ihrer Einrichtungen als strukturellen, organisatorischen Prozess. Was bedeutet das für Ihre Häuser? Immerhin gab und gibt es sehr viele Entwicklungen, die die Gestaltung von Räumen für das Leben im Alter betreffen?
Rüdiger Bauer: Jeder Bewohner kann, wenn er will, sein eigenes Mobiliar oder Teile davon mitbringen. Außerdem sorgen wir für eine heimelige Atmosphäre, indem wir viele Bilder aus der Geschichte der Menschen aufhängen und oft mit ihnen darüber sprechen. In unseren neu geplanten, leider noch nicht verwirklichten Neubauprojekten wird das Farbdesign eine große Rolle spielen, Lichtinstallationen werden die Räume hell ausleuchten, was vor allem eine Prävention gegen depressive Verstimmungen darstellt. Entsprechend der chronobiologischen Uhr des Menschen werden aber auch Möglichkeiten geschaffen, ab einer bestimmten Uhrzeit das Licht herunterzufahren, damit das Schlafhormon Melatonin ausgeschüttet werden kann.
Abgesehen von den Bewohnern – welche Folgerungen ergeben sich daraus für die Mitarbeiter insbesondere der Pflege?
Rüdiger Bauer: Die Mitarbeiter der Pflege und Betreuung müssen in modernen Wohnkonzeptionen umdenken lernen. Um vom Versorgungcharakter in Wohnbereichen wegzukommen, muss die Pflege und Betreuung vom Gedanken geleitet werden, dass Menschen hier in erster Linie wohnen. Pflegende treffen einen Menschen in seiner Privatheit und nicht in der Betriebsamkeit eines Wohnbereiches.
Nun hat die Corona-Pandemie viele Schwierigkeiten und Zwänge mit sich gebracht. Wie gehen Sie damit um – und was bedeutet das für Ihre neuen Konzepte und Vorhaben?
Heidrun Berger: Es wirkt ein wenig wie ein Spagat: Zum einen müssen wir Hygieneregelungen und Länderverordnungen umsetzen, zum anderen wollen wir für das Wohlbefinden der Bewohner da sein und sie vor Vereinsamung schützen. Leider konnten in dieser Zeit, die schon begonnenen Schulungsangebote zur KKB nicht umgesetzt werden. Das hat die Entwicklung aufgehalten. Wir sind guten Mutes, die Entwicklung bald wieder aufzunehmen.
Könnten Sie einmal anhand Ihrer derzeit neu entstehenden bzw. neu gestalteten Bestandsbauten beschreiben, wie sich die beschriebenen Konzepte hier bemerkbar machen und realisiert werden?
Rüdiger Bauer: Das Ziel ist es, Wohncharakter mit Selbstbestimmtheit zu schaffen. Konkret heißt dies: Wir bauen Ein-Raum- und Zwei-Raum-Wohnungen und Wohngemeinschafen. Die Pflege wird dann nicht mehr stationär, sondern ambulant stattfinden. So entsteht ein Arbeitscharakter wie in den ambulanten Diensten, die die verschiedenen Wohnungen anfahren, kennen auch die Wohngemeinschaften. Es ist eine andere innere Haltung, die bei Mitarbeitern entsteht, wenn sie die intime Häuslichkeit eines Menschen betreten.
Wie wird sich die Generation der Baby-Boomer aus Ihrer Sicht von den heutigen Bewohnern unterscheiden? Und wie möchten Sie auf deren Bedürfnisse eingehen?
Heidrun Berger: Wir wollen Projekte vorantreiben, die sich an den sogenannten Quartiershäusern der fünften Generation der KDA (Kuratorium Deutsche Altershilfe) orientieren. Die Schwerpunkte in der „fünften Generation“ sind Privatheit, Gemeinschaft, Öffentlichkeit und Selbstbestimmtheit. Ein konkretes Projekt befindet sich schon am Standort Schleusingen in Planung, wo eineinhalb Etagen zu Wohngemeinschaften umgebaut werden und Einraum- sowie Zweiraumwohnungen angeboten werden. Die entstehenden Einheiten sind dann keine stationären Einrichtungen und auch nicht das Konzept des betreuten Wohnens, sondern: Die pflegerischen Leistungen werden ambulant erbracht, aber es ist trotzdem immer eine Betreuung vor Ort, die Beschäftigung anbietet und mit den Bewohnern der Wohnungen in einer Gemeinschaftsküche kocht. Jeder Bewohner kann aber auch für sich selbst in seiner eigenen Wohnung kochen und sich selbst versorgen, soweit es noch möglich ist. Dieses Konzept könnte sich dann in der Zukunft weiterentwickeln, um irgendwann so weit zu sein, dass wir auch die „Baby-Boomer-Generation“ erreichen. Das sind die geburtenstärksten Jahrgänge zwischen 1955 und 1964 – auf diese Generation bereiten wir uns vor. Da sich jedoch dazu auch die Mitarbeiter verändern müssen und Veränderungsprozesse lange dauern, beginnen wir mit diesem Model, um noch optimalere Lösungen für die „Baby-Boomer“ entwickeln zu können. Dieses Konzept wollen wir außerdem auch im Ersatzneubau für das Seniorenzentrum „Am Eckardtsberg“ an der „Alten Post“ in Coburg anwenden sowie gleichzeitig eine Quartiersentwicklung im Zuge der Sanierung der Gebäude hinter dem Lohgraben durch die Wohnbau Stadt Coburg vornehmen.
Rüdiger Bauer: Auch für das Wohnhaus in Lindenau planen wir ein ähnliches Projekt. Es gibt dort neben dem bereits bestehenden Wohnhaus zwei schöne alte Häuser, die derzeit ungenutzt sind. Dort wollen wir ebenso Wohnungen und Wohngemeinschaften entstehen lassen und das reichlich vorhandene umliegende Gelände für eine Bio-Gärtnerei nutzen. Die Bewohner werden dort ebenfalls, ganz im Sinne des neuen Bundesteilhabegesetzes, ambulant psychiatrisch versorgt und können, wenn sie dies wollen, in der Biogärtnerei arbeiten.
Die „Kultur Kongruenter Beziehungen“ (KKB)
Das Prinzip der „Kultur Kongruenter Beziehungen“ ist im Jahr 1992 in einer psychosomatischen Klinik als ein Pflegkonzept entstanden. Grundlagen waren die Humanistische Psychologie von Carl R. Rogers und das Zuwendungsmodell von Prof. Dr. Jean Watson. Heute wird die Beziehung zwischen Menschen über Erkenntnisse der Neurowissenschaft beschrieben. Beziehung formt Gehirne und so wie diese Gehirne dann geformt sind, so werden sie wieder Beziehung gestalten. Deshalb versucht das Konzept, den Menschen dabei zu helfen, sich zuerst zu fragen, aufgrund welcher Vorerfahrungen sie einen bestimmten Menschen so erkennen, wie sie ihn erkennen: Warum zum Beispiel ist einer für einen anderen sympathisch und für einen anderen völlig unsympathisch?
Zunächst wurde die KKB in psychiatrischen Kliniken in Deutschland, Österreich und der Schweiz umgesetzt. Seit 1998 fand das Konzept seinen Weg in die Altenhilfe, vor allem in Deutschland und Österreich. Viele Einrichtungen, die nach der KKB arbeiten, haben sich zu einem internationalen Kreis, einer KKB-Gemeinde zusammengefunden und entwickeln sich, z.B. durch Austauschprogramme und gemeinsamen Veranstaltungen weiter.
Die Anwendung des Konzepts soll vielfältig wirken: Dazu zählen höhere Arbeitszufriedenheit und Identifikation der Mitarbeiter, starker Rückgang von Ausfallzeiten durch Arbeitsunfähigkeit, Empfindung eines entschleunigten Arbeitens. Bei Bewohnern entsteht außerdem eine höhere Zufriedenheit, verbessertes Wohlbefinden, Stärkung des Immunsystems, Rückgang der Gabe von Schmerzmitteln, Psychopharmaka und Neuroleptika, deutlich erhöhte Spürbarkeit der Selbstbestimmung im Alter. Besondere Wirkung zeigt das Konzept auch bei Menschen mit Demenz.
Quelle: Regiomed