IT & Kommunikation

„Es braucht politische Führung“

Zum Bündnis „Digitalisierung in der Pflege“

27.07.2021 - Der Verband der diakonischen Dienstgeber Deutschlands (VdDD) ist einer der Initiatoren des Bündnisses „Digitalisierung in der Pflege“, zu dem sich sechs Verbände aus dem Gesundheits- und Sozialwesen zusammengeschlossen haben.

Matthias Erler von medAmbiente sprach mit dessen stellvertretenden Geschäftsführer und Bereichsleiter Ökonomie, Rolf Baumann.

Herr Baumann, Digitalisierung ist ja mehr als ein modisch-vergängliches Buzz-Word, es beschäftigt Politik, Wirtschaft und Kultur gleichermaßen. Jetzt soll das Thema auch in der Pflege Fahrt aufnehmen. Welche der mit der Digitalisierung verknüpften Erwartungen – etwa: Prozesse optimieren, Pflegeberuf attraktiver machen, Pflegequalität und Teilhabe verbessern – haben Sie als VdDD am stärksten zur Teilnahme an diesem Bündnis bewogen? Wo könnte Digitalisierung aus Ihrer Sicht also am meisten bewirken?

Rolf Baumann: Die Dinge hängen eng miteinander zusammen. Wenn es uns nicht gelingt, genügend junge Menschen für den Pflegeberuf zu begeistern, werden wir keine Qualität erreichen können. Kunden haben berechtigte Erwartungen. Unzufriedene Kunden und schlechte Prozesse frustrieren das Pflegepersonal und führen zur Abwanderung in andere Berufe. Egal, wie man es dreht und wendet, wir brauchen eine zeitgemäße und sachgerechte Digitalisierung, die Kunden, Mitarbeitende und Prozesse gleichermaßen gut bedient. Eine einseitige Fokussierung nur auf das eine oder andere führt nicht weiter.

Ein bundesweiter Strategieplan – das klingt nach Top-down-Ansatz. Andererseits sind einige Träger und Einrichtungen in der Pflege digitalisierungsstrategisch ja durchaus schon vorgeprescht – ein Beispiel wäre die Evangelische Heimstiftung (wir berichteten in medAmbiente 2/2019). Kann man auf solchen Erfahrungen nicht aufbauen?

Rolf Baumann: Sie denken an eine Behörde, die im stillen Kämmerchen Standards entwickelt und diese dann haarklein von oben vorgibt? Das wäre in der Tat verfehlt.

Was es braucht und was wir fordern ist politische Führung. Es muss ein Zukunftsbild entwickelt werden, wie die digitale Pflegeeinrichtung in der Zukunft aussehen könnte und welche Schritte dahin führen. Das in der Branche interdisziplinär vorhandene Know-how muss aufgenommen und gebündelt werden. Die Erfahrungen der Einrichtungsträger, wie z. B. der Evangelischen Heimstiftung, sind eine wichtige Quelle. Schließlich ist ein politischer Konsens in Bezug auf pflegefachliche, technische und finanzielle Aspekte herbei zu führen. Im Kern verstehen wir den nationalen Strategieplan als einen strukturierten, im Gesetz verankerten Prozess, der alle relevanten Akteure mitnimmt und dafür sorgt, dass die Potentiale der Digitalisierung endlich gehoben werden.

Infrastrukturelle Fragen andererseits, also Breitbandausbau, etc., sind eher übergreifender, nicht pflegespezifischer Natur. Wie viel Einfluss rechnen Sie sich hier aus?

Rolf Baumann: Steter Tropfen höhlt den Stein. Wir können das Bewusstsein dafür schärfen, dass nicht nur die gewerbliche Wirtschaft, sondern zunehmend auch die soziale Dienstleistungserbringung eine digitale Infrastruktur voraussetzt.

Wo und warum sehen Sie die in Ihrem Positionspapier geforderten verbindlichen Standards und Leitlinien vor allem als wichtig und erforderlich an?

Rolf Baumann: Exemplarisch möchte ich zwei Bereiche nennen: Pflegebedürftige müssen wissen, welche digitale Grundversorgung sie als Teil der Regelleistung erwarten können, z. B. im Bereich der Assistenzsysteme. Und wer sie bei der Auswahl sachkundig berät, in die Handhabung einführt und dauerhaft in der Anwendung begleitet. Daneben wird es optionale Leistungen geben, die zugekauft werden können. Wenn der Leistungskatalog steht, können diese Prozesse organisiert und die Finanzierungsregelungen erarbeitet werden.

Großer Klärungsbedarf besteht auch im Bereich der intersektoralen Kommunikation. Momentan existiert noch kein konsistentes Datenmodell, das festlegt, welche Daten langfristig bzw. ausschließlich in der ePA geführt werden und welche Daten langfristig bzw. ausschließlich in den IT-Systemen der Leistungserbringer oder ggf. auf privaten Geräten der Pflegebedürftigen geführt werden. Momentan steuern wir auf eine redundante Datenhaltung zu.

Lassen Sie uns einmal in eine Einrichtung der nicht allzu fernen Zukunft versetzen – vielleicht in eine moderne, verschiedene Wohn- und Pflegebedürfnisse umfassende, gut ins Quartier eingebundene, mehrgenerationenintegrierende Einrichtung. Wie könnte aus Ihrer Sicht die Digitalisierung das Gesicht dieser Einrichtung realistischer- und wünschenswerterweise verändert haben? Zunächst vielleicht aus Sicht der Bewohner?

Rolf Baumann: Der Mensch ist ein soziales Wesen und in Bewegung. Die Technik unterstützt ihn bei der sozialen Interaktion und bei der Mobilität. Durch ein digitales Informationssystem bekomme ich mit, was um mich herum gerade läuft und woran ich partizipieren kann – in meiner Wohngemeinschaft, im Quartier oder darüber hinaus – so dass ich mich als Teil einer Gemeinschaft identifizieren kann. Mobilitätshilfen, z. B. ein intelligenter Rollator, unterstützen mich bei der Bewegung. Mein Wearable trage ich ständig bei mir. Es ermöglicht mir, barrierefrei mit anderen Bewohnern, Angehörigen, Service- und Pflegekräften in Verbindung zu treten und Bedürfnisse zu äußern. Nebenbei trägt es durch Monitoring zu meiner Sicherheit bei. Die Mensch-Maschine-Schnittstelle ist einfacher als heute. Sprach- und einfache Finger- bzw. Drucksteuerungen spielen eine große Rolle. Damit diese Systeme menschendienlich sind, müssen sie nutzergruppenabhängige Filterungs- und Steuerungsmechanismen beinhalten, womit wir bei ethischen Fragen sind. Das Kommunikations- und Mobilitätsbedürfnis einer dementiell erkrankten Person muss möglicherweise in Einklang gebracht werden mit den Ruhebedürfnissen anderer Bewohner oder auch den Belastungsgrenzen der Angehörigen und der Mitarbeitenden.

. . . letztere nehmen ja einen eigenen Blickwinkel ein?

Rolf Baumann: Für die Mitarbeitenden gilt im Grundsatz das Gleiche, was Informations- und Kommunikationssysteme sowie Mobilitätshilfen anbelangt. Darüber hinaus werden Dokumentations- und Koordinierungsaufgaben durch Systeme übernommen. Über Sensorik werden zum Beispiel Vitaldaten der Pflegebedürftigen automatisch erfasst. Die händische Übertragung, die sehr fehleranfällig ist, entfällt. Die Dienstplanung erfolgt digital und in Echtzeit. Tablets und Software ersetzen im Idealfall das Papier, und die gewonnene Zeit kommt direkt den Kunden zugute. Robotik entlastet mich bei körperlich schweren Tätigkeiten. Man denke zum Beispiel an Hebesysteme, die beim Umlagern und Aufrichten von Pflegebedürftigen unterstützen und leichter bedienbar sind als heute. Das Berufsbild erweitert sich und wird dadurch attraktiver. Wir schlagen z. B. vor, Pflegekräfte zu sogenannten „Pflege-Digital-Begleitern“ weiterzubilden, die in allen Pflegesektoren (ob Klinik, ambulante, teilstationäre oder stationäre Pflege) unterstützen, beraten und koordinieren. Sie sind die Vermittler zwischen Kunden, Pflegepersonal sowie Digitalisierungs- und IT-Experten.

Das Bündnis „Digitalisierung in der Pflege“
Um die Digitalisierung auch in der Pflege in Deutschland voranzubringen, haben sich sechs Verbände aus dem Gesundheits- und Sozialwesen zum Bündnis „Digitalisierung in der Pflege“ zusammengeschlossen. Übergeordnete Forderung ist ein Kompetenzzentrum sowie ein nationaler Strategieplan zur Digitalisierung der Pflege. Das Bündnis setzt sich zusammen aus dem Bundesverband Gesundheits-IT (bvitg) und dem Verband der diakonischen Dienstgeber Deutschlands (VdDD) als Initiatoren sowie dem Deutschen Pflegerat (DPR), dem Deutschen Evangelischen Verband für Altenarbeit und Pflege (DEVAP), dem Fachverband Informationstechnologie in Sozialwirtschaft und Sozialverwaltung (FINSOZ) und dem Verband für Digitalisierung der Sozialwirtschaft (Vediso).

Kontakt

Verband diakonischer Dienstgeber Deutschland (VdDD)

Invalidenstraße 29
10115 Berlin
Deutschland

030-88 47 170 17
030-88 47 170 55

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