„Hygiene muss positiver verknüpft werden“
Hygienekonzepte und deren Umsetzung im Pflegeheim
Hygienemanagement Solutions (Hygso) versteht sich als Team aus „leidenschaftlichen Prozess-Verbesserern“. Hygienekonzepte sollen deshalb nicht nur auf dem Papier bestehen, sondern auch mit Leben gefüllt und die entscheidenden Präventionsmaßnahmen am Bewohner und Patienten umgesetzt werden. Matthias Erler von medAmbiente sprach mit dem Inhaber Martin Groth.
Herr Groth, ob es nun um „Miasmen“, Mikroorganismen oder virenschwangere Aerosole geht – Infektionsgefahren und der Versuch, sie einzudämmen, beschäftigt die Menschheit ja schon sehr lange. Die Hygiene hat hier in jüngerer Zeit einerseits Triumphe feiern können – aber ausgerechnet der Besuch medizinischer Einrichtungen führt auch heute sehr oft zu Infektionen, die nicht selten tödlich verlaufen. Sehen Sie sich als Hygienemanager als so eine Art Sisyphos?
Martin Groth: Definitiv ist unsere Aufgabe meist mit viel Geduld verbunden. Den wenigsten Beschäftigten im Gesundheitswesen fehlt es am nötigen Hygienewissen, um Infektionsgefahren einzudämmen. Vielmehr wird der Hygiene im Alltag teilweise einfach nicht die nötige Bedeutung zugestanden, sodass sie bei stressigen Situationen hinten überfällt. Genau da setzen wir an. Letztendlich wollen wir häufig auf das Verhalten der Beschäftigten einwirken und dieses basiert eben nicht nur auf dem Wissen und den Fähigkeiten zur Infektionsprävention, sondern vor allem auf den eigenen Erfahrungen und Beobachtungen. Ich würde mich daher nicht als Sisyphos sehen, sondern auf einem fortwährenden Weg, Hygiene vor Ort lebbar zu machen und die umsetzende Basis von diesem Weg zu überzeugen.
Sie beraten ja Krankenhäuser und Pflegeeinrichtungen – und etablieren Hygienekonzepte. Offenbar greifen viele Einrichtungen auf Ihre externe Beratung zurück, obwohl doch die Hygiene Bestandteil der Pflegeprofession und -ausbildung selbstverständlich dazu gehört?
Martin Groth: Wir starten in unseren Aufträgen auf jeden Fall nicht bei Null. Die Grundvoraussetzungen sind aber immer verschieden und selbst innerhalb einer Station oder eines Wohnbereichs zeigen sich deutliche Wissens- und Umsetzungsunterschiede beispielsweise in Bezug auf etablierte Routinen oder den Umgang mit multiresistenten Erregern. Zu Beginn neuer Projekte machen wir auch immer wieder die Erfahrung, dass vor allem erfahrenere Kräfte häufig ermüdet davon sind, dass Ihnen in Bezug auf Hygiene vordergründig vor allem Regeln und Pflichten, statt der Nutzen der Maßnahmen vermittelt werden. Dadurch gelingt es vielen Hygieneberatern oder -beauftragten nicht, als Unterstützung wahrgenommen zu werden. Ein Schlüssel zur Verbesserung der Hygiene in medizinischen und pflegerischen Einrichtungen ist, dass dies als Teamaufgabe begriffen wird. Auf jeden Einzelnen kommt es an – gerade in Pandemiezeiten auch auf die mögliche Einbindung der Bewohner bzw. Patienten. Wir sind daher nicht nur Wissensträger, sondern vor allem auch Moderatoren und Impulsgeber. Dabei verbessern wir uns immer auch gemeinsam mit unserem Auftraggeber.
Welchen allgemeinen Eindruck haben Sie denn von den Hygiene-Standards in Alten- und Pflegeeinrichtungen in Deutschland?
Martin Groth: Es gibt ja den gesetzlich verpflichtenden Hygieneplan nach TRBA 250 – aus rechtlicher Sicht sehe ich die meisten Einrichtungen hier gut und sicher aufgestellt.
Die wesentlichen Inhalte zur Händehygiene, zur Anwendung von Desinfektionsmitteln und zum Einsatz von Schutzkleidung sind in der Regel schriftlich niedergelegt. Alleine die Durchdringung dieses Wissens hin zur Umsetzung gelingt aber häufig nicht. Das hängt meist auch mit dem Aufbau der einzelnen Standards zusammen, die mitunter sehr textlastig oder kompliziert aufgebaut sind. In Akutsituationen interessiert sich die einzelne Pflegekraft aber nicht für die Epidemiologie eines Erregers, sondern vor allem für die notwendigen hygienischen Erstmaßnahmen. Diese Erwartungshaltung gilt es aufzugreifen, statt Papiertiger zu produzieren, die nur die Prüfbehörden glücklich machen.
Die Risikoanalyse steht am Anfang Ihrer Beratung. Wo würden Sie typische Schwachpunkte sehen?
Martin Groth: Hygienische Schwachstellen finden sich sowohl in der Struktur- als auch in der Prozessqualität. Am häufigsten und auffälligsten sind sicherlich menschliche „Fehler“ zu sehen, wobei ich in diesem Zusammenhang manchmal eher von Verhaltensabweichungen im Vergleich zum hygienischen Optimum sprechen würde. Damit möchte ich die Fehler keinesfalls kleinreden, wohl aber berücksichtigen, wie diese entstehen: eine Ursache ist z. B. die typische Durchführung von Hygieneschulungen. Bevor wir ein Projekt übernehmen, laufen diese in der Regel nach dem immer gleichen Muster mit denselben Schwerpunkten ab. Die Mitarbeiter sind häufig schon gelangweilt, wenn sie – meist nach Feierabend oder zu Dienstbeginn – zur x-ten einstündigen „Pflichtschulung“ gebeten werden. Dies deklariert Hygiene schon automatisch zur lästigen Notwendigkeit. Warum nutzt man keinen anderen Ansatz, z. B. interaktiv in kleinen Gruppen Spezialthemen für 10 bis 15 Minuten direkt auf dem Wohnbereich zu thematisieren? Wir können doch keine adäquate Infektionsprävention erwarten, wenn die Beschäftigten nicht auf Augenhöhe angesprochen werden und keine wirkliche Gelegenheit erhalten, ihr Verhalten zu hinterfragen und anzupassen. Hygiene muss positiver verknüpft werden, nur dann bringen sich die Beteiligten auch eigeninitiativ in einen Verbesserungsprozess ein.
Herr Groth, während der letzten Jahrzehnte haben Pflegeheime aus konzeptioneller, gestalterischer und (innen-)architektonischer Sicht erhebliche Häutungs- und Umwandlungsprozesse durchgemacht. Gerade das Klinische scheut man heute so sehr wie der Hygieniker den benutzten Spüllappen. Es geht um Wohnlichkeit oder gar Hotelähnlichkeit, aber auch um Wohngruppenkonzepte sowie um die Öffnung hin zum Stadtteil, um die Zusammenführung der Generationen, um Integration, etc. Sind das nicht ideale Stoffe für schwere Hygienemanager-Albträume?
Martin Groth: Das sehe ich überhaupt nicht. Hygiene muss kein starres Konstrukt sein, das ausschließlich Barrieren aufbaut. Das merken wir immer wieder gerade in Bezug auf Wohnlichkeit, Gemeinschaftsaktivitäten und Lebensmittel, wo unter dem Deckmantel der „Hygiene“ übervorsichtige Verbote ausgesprochen werden. Das läuft dann meist unter der Überschrift „wir gehen mal auf Nummer sicher“. Aber die vermeintlich gewonnene Rechtssicherheit geht eben auf Kosten der Lebensqualität der Bewohner. Dabei ließe sich etwa durch Simulierung der möglichen Übertragungswege von Krankheitserregern eine individuelle Risikoanalyse durchführen, an deren Ende beides verbunden wird: Bewohnersicherheit und Teilhabe.
Insbesondere die Reinigung kann man je nach Ausstattung eines Hauses erschweren oder erleichtern...?
Martin Groth: Bezüglich der Vermeidung von Infektionsgefahren nimmt eine punktuelle Flächendesinfektion schon eine wichtige Rolle ein. Im Vergleich zu Akutkrankenhäusern haben wir in Pflegeheimen aber ein bisschen mehr Spielraum bei der räumlichen Gestaltung. Man muss sich klarmachen, dass die Menschen eben keine Patienten sind, sondern dort wohnen. Teppichböden in unreinen Pflegearbeitsräumen würde ich für ein wohnlicheres Gefühl aber nicht verlegen wollen.
Plüschige Sofas verweisen Sie aber nicht des Hauses...?
Martin Groth: Da sprechen Sie ein heikles Thema an. Schließlich sprechen wir seit einigen Jahren wieder vermehrt über Scabies, also Krätzemilben, die in Pflegeheimen zu Ausbrüchen führen können. Bei Krätzeausbrüchen ist die lange Inkubationszeit die größte Herausforderung. Erst zwei bis sechs Wochen nach der Ansteckung zeigen sich erste Symptome durch Hautveränderungen, aber in der Zwischenzeit können die Milben bei engen Hautkontakten bereits munter weitergegeben werden. Gerade die Vorstellung, was da unter unserer Haut los ist, führt dazu, dass schnell zu allen denkbaren Maßnahmen gegriffen wird, ohne diese in Bezug auf Ihre Wirksamkeit abzuwägen. Polstermöbel können aber einfach genauso wie Kleidung für 48 Stunden unangetastet oder eingepackt werden, sodass etwaige Milben aufgrund des fehlenden Kontakts zu einem Wirt absterben. Das sind vergleichsweise einfache Maßnahmen. Viel schwieriger ist es hingegen, z. B. die Angehörigen der Bewohner oder des Personals, die sich noch in der Inkubationsphase befinden könnten – also keine sichtbare Symptomatik aufweisen – in etwaige Sanierungszyklen einzubinden. Nur so lassen sich Ping-Pong-Effekte gegenseitiger Wiederansteckung unterbinden.
Es gibt ja schon lange funktional aufgerüstete Textilien – etwa Vorhänge mit antibakteriell wirkenden Silberionen. Wie sehen Sie das – und welche Rolle spielen sie bei Ihren Konzepten?
Martin Groth: Keiner dieser Ansätze hat uns bisher im Gesamtzusammenhang überzeugt. Ob nun Silberionen-beschichtete Flächen oder Präparate, die eine vermeintliche Bakterienschutzschicht aufbauen: Die Konzepte zeigen meist ganz interessante Abtötungseffekte auf Mikroorganismen, aber die dafür notwendigen Kontaktzeiten betragen stets mehrere Stunden. Damit lassen sich also keine Flächendesinfektionen oder andere Hygienemaßnahmen ersetzen, womit der praktische Nutzen eingeschränkt ist.
Auch Türklinken gibt es zum Beispiel mit solchen Funktionen?
Martin Groth: Ein gutes Hygienemanagement funktioniert als Multibarrierensystem. Das heißt, mehrere parallel eingesetzte Maßnahmen werden für die Verhinderung von Erregerübertragungen gleichzeitig eingesetzt. So ergänzen sich z. B. die Händedesinfektion und das Tragen von Handschuhen. Nun könnte man argumentieren, dass antibakterielle Türklinken im Vergleich zu konventionellen Türklinken einen Mehreffekt bringen würden. Eine kupferbeschichtete Türklinke kann die Anzahl an darauf befindlichen Erregern schließlich über mehrere Stunden reduzieren. Nur kann sie keine Händedesinfektion ersetzen! Dem Personal müsste also klar sein, dass dies auch nur ergänzend und nicht ersetzend zu sehen ist. Hier sehe ich eine Gefahr im psychologischen Effekt einer (sichtbaren) Beschichtung: Das Personal dürfte sich alleine aufgrund einer Beschichtung nicht auf erregerfreie Oberflächen verlassen. In die gleiche Richtung würde ich im Übrigen auch UVC-LEDs verorten, deren Wellenlänge eine antimikrobielle Wirkung hat.
Die Coronapandemie hat zu extremen Kontaktbeschränkungen gerade in Pflegeheimen und anderen Health-Care-Einrichtungen geführt. Wie lässt sich aus Ihrer Sicht ein gangbarer Weg zwischen dem hygienisch Erforderlichen, dem humanen Umgang mit Bewohnern, Patienten, Mitarbeitern und Angehörigen finden?
Martin Groth: Bis dato haben wir hier keine Patentlösung gefunden. Ein Schlüssel ist sicherlich die transparente Kommunikation zwischen allen Beteiligten, also Führungskräften, dem Personal an der Basis, den Bewohnern und ihren Angehörigen. Aufgrund der sich teilweise kurzfristig ändernden Vorgehensweisen potenzieren sich diesbezüglich Aufwand und etwaige Unstimmigkeiten. Gerade Angehörige wollen nachvollziehen können, warum z. B. bestimmte Einschränkungen bei Besuchen bestehen und wie diese begründet werden. Hier können Führungskräfte durch leicht verständliche Merkblätter und logische Wegeführungen in besonderem Maße auf eine gute Umsetzung der hygienischen Prinzipien einwirken.
Könnten Sie das an ein paar Beispielen noch etwas konkretisieren?
Martin Groth: Viele Einrichtungen haben sich hier sehr kreativ gezeigt. Die meisten haben sich z. B. den größtenteils trockenen Sommer zu Nutze gemacht und die Besuchsregelungen im Freien umgesetzt. Dadurch wurde das Risiko luftbedingter Übertragungen genauso wie die mögliche Einschleppung in die stationären Räumlichkeiten reduziert. Phantasie war auch bei den Konzepten zu möglichen Isolier- und Quarantäneeinheiten gefragt. Stellenweise wurden hierfür schon mal vorsorglich große, zurzeit ungenutzte Gemeinschaftsräume frei geräumt oder Zwischenwände gezogen, sodass auch bei spontanen Erregernachweisen am Wochenende schnell reagiert und sicher behandelt werden konnte.
Kommen wir noch zum Thema PSA. Was ist hier aus Mitarbeitersicht nötig und sinnvoll? Welche Änderungen hat die Pandemie faktisch und normativ bewirkt?
Martin Groth: Die Bedeutung des Mund-Nasen-Schutzes zur Verhinderung von Tröpfchenübertragungen ist nun sicherlich weiter verbreitet, als noch zu Beginn der Pandemie. Auch die Unterscheidung von Tröpfchen zu Aerosolen und die daraus folgenden Auswirkungen auf die Wahl der Persönlichen Schutzausrüstung sind nun transparenter. Mit Blick auf Covid-19 etablierte sich relativ schnell die generelle Nutzung einer Atemschutzmaske bei aerosolprovozierenden Tätigkeiten, wie der Abstrichnahme aus dem Nasen-Raum-Raum. Ob allerdings die Pandemie alleine zu dauerhaft besserem Hygieneverhalten führt, schätze ich persönlich sehr skeptisch ein. Nachhaltig positive Veränderungen in Bezug auf die Patienten- und Bewohnersicherheit müssen meines Erachtens noch während der geltenden Einschränkungen proaktiv angegangen werden. Statt kommenden Lockerungen mit kollektiver Erleichterung zu begegnen, sollte die momentan erhöhte Sensibilität für Hygienethemen gerade jetzt z.B. zur Weiterbildung von Multiplikatoren und zur Etablierung einer einrichtungsspezifischen Hygienekultur genutzt werden.
Hierzu kann auch eine eigeninitiative Erweiterung der Basishygienemaßnahmen gehören: Warum sollte man sich künftig nicht immer an der lokalen oder saisonalen Gefährdungslage orientieren und z.B. festlegen, die Grundpflege in den Wintermonaten grundsätzlich mit Mund-Nasen-Schutz durchzuführen? Die Pandemie zeigt, dass solche Maßnahmen eine messbar bessere Infektionsprävention bringen können und sie sowohl möglich als auch zumutbar sind.“
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