Im Wettlauf mit dem Erreger
29.12.2023
- Experten der Paracelsus-Kliniken haben im Rahmen einer Dissertation die Behandlung von Harnwegsinfektionen und Sepsen ausgewertet. Andere Kliniken könnten von der Idee der SAPHIR-Studie profitieren.
Wie gut sind wir bei der Diagnose von Keimen und beim Antibiotika-Einsatz wirklich? Werden wir den Anforderungen an eine hohe Behandlungsqualität gerecht? Erfüllen wir alle Leitlinien? Diese oder ähnliche Fragen werden im Krankenhaus-Alltag bei der Behandlung von Harnwegsinfektionen und Sepsen nur selten gestellt. Dabei sind eine schnelle und sichere Diagnostik der Erreger und der gezielte Einsatz passender Antibiotika lebensrettend.
Das unterstreichen auch wissenschaftliche Fakten: Multiresistente Erreger gelten derzeit als größtes gesundheitliches Zukunftsrisiko mit geschätzten weltweit 10 Mio. Toten bis zum Jahr 2050 und deutschlandweit bis zu 35.000 Infektionen und 4.000 Toten. Demgegenüber sind Antibiotika-Verordnungen in Akutkrankenhäusern zu 20 bis 50 % falsch. Ein Spannungsfeld, das vor dem Hintergrund immer neuer Antibiotika-Resistenzen und der dringenden Suche nach neuen Lösungen bei der Bekämpfung von Infektionen noch an Brisanz gewinnt.
Vier Kliniken zwei Jahre in der Retrospektive
Die Paracelsus-Kliniken haben sich dieser Problematik angenommen und in einer bundesweiten Untersuchung im Rahmen ihres Antibiotic Stewardship (ABS) Daten aus der Praxis analysiert – in dieser Form ein Novum an deutschen Kliniken der Grund- und Regelversorgung. Erste Ergebnisse der „SAPHIR-Studie“ wurden im August beim 22. Hannoverschen Krankenhaushygienetag des Instituts für Medizinische Mikrobiologie und Krankenhaushygiene der Medizinischen Hochschule Hannover vorgestellt.
Joachim-Peter Biniek, Doktorand und Weiterbildungsassistent am Zentralinstitut für Krankenhaushygiene und Umweltmedizin der Paracelsus Kliniken, stellte im Rahmen seiner Dissertation ein Jahr lang die antibiotische Therapie bei relevanten Infektionen an vier Akutkliniken auf den Prüfstand. Ausgewählt wurden dabei die Sepsis (ICD A.41) als besonders schwerwiegende Infektion und die Harnwegsinfektion (ICD N.39) als besonders häufige Infektion. Biniek analysierte in der Retrospektive 586 Fälle aus den Jahren 2019 und 2020, zu zwei Dritteln (458) Harnwegsinfekte und einem Drittel (128) Sepsen, sichtete (anonymisierte) Patientenakten, die pflegerische und ärztliche Dokumentation und Laborbefunde. Zu beachten hatte er dabei, dass die Untersuchung in einem überwiegend geriatrischen Setting stattfand. Die Patient*innen waren im Durchschnitt 77,6 Jahre alt mit den entsprechenden Multimorbiditäten und Vorerkrankungen.
Ziel war es, herauszufinden, wie gut die mikrobiologische Diagnostik in diesen Praxisfällen im Beobachtungszeitraum tatsächlich gewesen war, inwieweit sie das Erregerspektrum abdeckte und ob eine adäquate und leitliniengerechte Therapie mit einem richtigen und rationalen Antibiotikaeinsatz seinerzeit durchgeführt wurde. Als Referenzen wurden die Leitlinien von Fachgesellschaften ebenso berücksichtigt wie klinikinterne Leitlinien. All diesen Faktoren gemein ist ihre große Auswirkung auf die laufende Qualität und den Outcome der Behandlung, denn ein fachgerechter und passender Antibiotikaeinsatz senkt nicht nur die Aufenthaltsdauer und den Verbrauch an Medikamenten, sondern auch die Fallzahlen bei Infektionen und die damit verbundenen Kosten. Und last but not least ist er auch für die (bei den Paracelsus-Kliniken überdurchschnittlich geringe) Letalität entscheidend.
Diagnose sehr gut – Mikrobiologie mit Potenzial
Erstes Ergebnis: Bei 61 % der aufgenommenen Patienten wurde in den untersuchten Paracelsus-Kliniken vorsorglich eine mikrobiologische Untersuchung vorgenommen und in 85 % der Fälle tatsächlich der Nachweis eines Keims erbracht. Damit sind die Kliniken der Gruppe sehr gut, was das Erkennen von Infektionen angeht, auch wenn die Zahl der mikrobiologischen Untersuchungen insgesamt sicher noch steigerbar ist. Festgestellt wurde sowohl bei den Harnwegsinfektionen als auch bei den Sepsen ein relativ breites Spektrum an Erregern, die sich mit nationalen und internationalen Referenzdaten vergleichen lassen. Dabei dauerte die Behandlung bei Harnwegsinfektionen zwischen einem und 21 Tagen (Mittelwert 4,4 Tage) und die Behandlung von Sepsen zwischen einem und 14 Tagen (Mittelwert 4,9 Tage). Auch Fehl-Therapien im Umfang von rund 5 % wurden erfasst, ein Umstand, der in der Regel auf eine fehlende oder falsche mikrobiologische Diagnostik zurückzuführen war. Hier besteht aus Sicht der Paracelsus-Kliniken noch Verbesserungspotenzial bei der Sensibilisierung der Beschäftigten. Im Rahmen einer seit einem Jahr laufenden Aufklärungskampagne zum Thema Sepsis wurde bereits eine deutliche Verbesserung erreicht (Indikator ist der um 50 % gestiegene Verbrauch von Blutkulturflaschen).
Leitlinienadhärenz ist steigerbar
Das zweite Ergebnis war anhand vorliegender internationaler und nationaler ABS-Vergleichszahlen fast nicht anders zu erwarten: Eine leitliniengerechte Behandlung wurde in der Praxis nur in zwei Dritteln der Fälle durchgeführt, davon ein Drittel ohne eine mikrobiologische Diagnostik auf rein empirischer Basis. Da das Phänomen flächendeckend auftritt, ist davon auszugehen, dass dies bei allen Kliniken der Grund- und Regelversorgung in Deutschland mit einem ähnlichen Behandlungsspektrum vergleichbar ist. Andererseits sind Abweichungen von Leitlinienvorgaben oft Zugeständnisse an eine individuelle Behandlung. Beispiel Antibiotika-Gabe: Sie erfolgte in den Paracelsus-Kliniken in 63 % der Fälle ausschließlich parenteral, also per Infusion oder Injektion – nur 13 % der Patienten bekamen Tabletten. Gemäß den Leitlinien müsste Letzteres häufiger geschehen, ist aber als Selbstmedikation gerade bei älteren, multimorbiden Patienten, die eine besondere Überwachung des komplexen Genesungsprozesses im Krankenhaus brauchen, nicht immer möglich.
Wissenstransfer in die Praxis bis Mitte 2024
Im Rahmen ihres kontinuierlichen Verbesserungsprozesses werden die Paracelsus-Kliniken die Ergebnisse der wissenschaftlichen Untersuchung nun intern bis Mitte des kommenden Jahres standortübergreifend in Fachgruppen und Weiterbildungen für Ärzte, Therapeuten und Pflegefachkräften vermitteln und diskutieren. Erwartet wird eine kritische Auseinandersetzung mit der Thematik, die sich sowohl in der Praxis der einzelnen Abteilungen als auch in der turnusmäßigen Überarbeitung der hausinternen Leitlinien niederschlagen wird. Insbesondere wollen die Verantwortlichen den Ärzten verdeutlichen, dass durch eine Ausweitung mikrobiologischer Untersuchungen eine deutlich gesteigerte Möglichkeit besteht, gezielter und effektiver gegen Keime vorzugehen. Fernziel ist dann eine Re-Evaluation bei der ein direkter Vergleich der Zahlen vor und nach der Studie erfolgt. Sie soll dann den Erfolg messbar machen, der sich unter anderem in einem veränderten Verschreibungsverhalten von Antibiotika oder auch in der Zahl der angelegten Blut- und Urinkulturen zeigen dürfte.
Auch kleinere Untersuchungen helfen
Für andere Kliniken der Grund- und Regelversorgung könnte es sich lohnen, einen ähnlichen Blick auf die eigenen Zahlen zu werfen. Schon allein die Frage nach hausinternen Leitlinien für den Umgang mit Infektionen und Antibiotika dürfte nicht überall ausreichend zu beantworten sein. Profitieren könnten Kliniken auch davon, vergleichbare Untersuchungen zur Behandlung und zum Verschreibungsverhalten durchzuführen. Denn die Chancen, die sich aus einer erweiterten Diagnostik ergeben, sind für das Behandlungsergebnis erheblich. Auch eine Untersuchung mit weit weniger Aufwand kann schon einen positiven Effekt haben. So könnte am Anfang eine tagesaktuelle Punkt-Prävalenz-Untersuchung stehen, bei der ein ABS-Beauftragter stichprobenartig die leitliniengerechte Therapie im Haus überprüft und die Ergebnisse dann an die verantwortlichen Ärzte weiterspiegelt.
Literaturhinweis: Die Arbeit „SAPHIR – Studie zu Antibiotikatherapie bei Harnwegs- und Blutstrominfektionen in deutschen Krankenhäusern – eine retrospektive Analyse“ ist von Joachim Peter Biniek als Dissertation an der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH) entstanden im Rahmen der langjährigen Zusammenarbeit der Paracelsus-Klinik am Silbersee Langenhagen mit dem Institut für Medizinische Mikrobiologie und Krankenhaushygiene an der MHH unter Prof. Dr. Ralf-Peter Vonberg. Die Studie wird voraussichtlich in einer hochrangigen Fachzeitschrift veröffentlicht.
Autoren: Priv.-Doz Dr. Karolin Graf und Joachim-Peter Biniek, Paracelsus-Kliniken Deutschland, Langenhagen