Gesundheitspolitik

Kinderkliniken in der Klemme

21.08.2018 -

Die Stiftung Kindergesundheit beklagt katastrophale Folgen der Ökonomisierung für die Kindermedizin.

In den nächsten Wochen wird an vielen Kinderkliniken in Deutschland zum „Tag des Kinderkrankenhauses“ ein Kinderfest gefeiert. Mitgebrachte Teddybären und Puppen werden von Kinderärzten „verarztet“, Luftballons, Kuchenbuffet und Klinikclowns sorgen für gute Laune bei Kindern und Eltern. Die gastgebenden Kinderkliniken selbst haben allerdings nur wenig Grund zur Fröhlichkeit, berichtet die Stiftung Kindergesundheit in einer aktuellen Stellungnahme: Immer mehr Kinderkliniken droht ein drastischer Personal- und Leistungsabbau oder sogar die Schließung.

„Die meisten Kinderkliniken und Fachabteilungen für Kinder- und Jugendmedizin befinden sich in einer bedrohlichen Lage. Sie werden immer häufiger zu Verlierern in einem System, das auf die Bedürfnisse ihrer kleinen Patienten aus wirtschaftlichen Gründen kaum noch Rücksicht nimmt“, stellt Prof.  Dr. Berthold Koletzko, Vorsitzender der Stiftung Kindergesundheit, fest. „Kinderkliniken sind chronisch unterfinanziert und machen Verluste. Die Pflegekräfte und Ärzte sind überlastet und es fehlen massiv Arbeitskräfte, um die Versorgung in der bisher gewohnten und für Kinder so wichtigen hohen Qualität aufrecht zu erhalten.“

Kinder sind keine kleinen Erwachsenen, sondern brauchen eine medizinische Betreuung, die ihre Entwicklung berücksichtigt. Frühgeborene müssen anders behandelt werden als reif geborene Babys, Kindergartenkinder anders als Teenager. Der Organismus von Kindern befindet sich noch im Wachstum und benötigt andere Behandlungen als erwachsene Patienten.

Kranke Kinder benötigen einen etwa 30 Prozent höheren Personalaufwand als Patienten in der Erwachsenenmedizin, betont die Stiftung Kindergesundheit. Kinderkliniken müssen Betten vorhalten für ganz unterschiedliche Patientengruppen: Von Frühgeborenen, die weniger als 500 Gramm wiegen, bis zu Jugendlichen mit mehr als 150 Kilogramm Gewicht. Sie brauchen Betten für saisonal auftretende Infektionswellen und für Kinder mit unterschiedlichem Alter und mit stark voneinander abweichenden Bedürfnissen.

Mehr Kinder, aber weniger Kinderkliniken

Die flächendeckende Betreuung durch Fachabteilungen für Kinder- und Jugendmedizin weist indes bereits seit Jahren immer größere Lücken auf: Seit 1991 wurde jede fünfte Kinderabteilung geschlossen. In der stationären Kinderheilkunde wurden vier von zehn Betten abgebaut. Die Folge: Längere Anfahrtswege bis zum nächsten Kinderkrankenhaus, längere Wartezeiten, riskante Transporte in weit entfernte Kliniken. Es müssen auch immer mehr Kinder auf Erwachsenenstationen versorgt werden, wo sie unter Umständen von Ärzten behandelt werden, denen die Vertrautheit mit Kindern und das für die Kindermedizin erforderliche Spezialwissen fehlen.

Dabei steigt die Zahl der Kinder, die Hilfe benötigen, stellt die Stiftung Kindergesundheit fest: Nach vielen Jahren des Geburtenrückgangs werden heute wieder mehr Kinder geboren. Für viele Kinder mit schweren Erkrankungen haben sich die Behandlungsmöglichkeiten und ihre Chancen stark verbessert, aber sie brauchen dazu auch intensive und kompetente, oft spezialisierte Betreuung. Auch die Aufnahme geflüchteter Minderjähriger, die oft große gesundheitliche Belastungen mitbringen, erhöht den Aufwand der Kinderkrankenhäuser.

Fallpauschalen – für Kinder ein verhängnisvolles System

Verantwortlich für die besorgniserregende Situation der Kinderkliniken ist das System der seit 14 Jahren geltenden so genannten diagnosebezogenen Fallpauschalen (diagnosis related groups, DRGs). Schon bald nach ihrer Einführung war zu erkennen, dass die kinderärztlichen Einrichtungen durch dieses System in eine gefährliche finanzielle Schieflage geraten. Seit der Einführung des auf ökonomische Effizienz ausgerichteten DRG-Systems hat sich die Situation der Kinderkrankenhäuser stark verschlechtert. Der Grund laut Prof.  Berthold Koletzko: „Das System berücksichtigt nur unzulänglich denn bei der Versorgung von Kindern im Vergleich zu Erwachsenen entstehenden viel höheren Aufwand an Personal und Vorhaltemaßnahmen und die nur bei Kindern bestehenden seltenen oder komplexen Erkrankungen“.

Auf diese prekäre Situation hat der Deutsche Ethikrat bereits 2016 in einer Stellungnahme hingewiesen und aus ethischen Gründen eine vorläufige Aussetzung des Fallpauschalensystems für Kinderkrankenhäuser empfohlen. Die Empfehlung stieß jedoch bei den Gesundheitspolitikern bisher auf taube Ohren.

Kinder mit seltenen Krankheiten besonders benachteiligt

Besonders deutlich verschlechtert haben sich in den letzten Jahren die Bedingungen in den Schwerpunkt- und Universitätskliniken für Kinder- und Jugendmedizin. Diese Kinderkliniken der sogenannten Tertiärversorgung sind für die Behandlung von rund 200.000 Kindern in Deutschland zuständig, die unter schweren, chronischen und seltenen Erkrankungen leiden. Die Behandlung dieser Kinder kostet erheblich mehr als die von anderen Patientengruppen.

„Die Personalkapazität für die Versorgung gerade dieser Kinder ist heute deutlich schlechter als noch vor 10 Jahren und viel schlechter als in einigen europäischen Nachbarländern“, beklagt Prof.  Berthold Koletzko. So hat beispielsweise die Münchner Universitätskinderklinik im Dr. von Haunerschen Kinderspital bei etwa gleicher Größe und etwa gleicher betreuter Patientenzahl wie der Universitätskinderklinik in Zürich heute nur mehr ein Drittel der in Zürich vorhandenen Arztstellen. „Die Unterfinanzierung der Kliniken der Tertiärversorgung führt damit zu einer kritischen Bedrohung der Betreuung dieser Patienten“.

Obwohl zum Beispiel die Münchner Universitätskinderklinik in den letzten Jahren erhebliche Anstrengungen unternommen hat, um die Kosten zu reduzieren und dabei auch die personelle Kapazität stark abgebaut hat, entstand im letzten Jahr erneut ein hohes Defizit. Prof.  Berthold Koletzko: „Die Konsequenz ist ein weiterer Stellenabbau, der die schon derzeit nicht mehr kindgerechte Versorgung ausgerechnet der Kinder und Jugendlichen mit der größten Hilfsbedürftigkeit noch weiter verschlechtert“.

Ausbildung von pädiatrischen Spezialisten in Gefahr

Die Unterfinanzierung der Universitätsmedizin bedroht indes nicht nur die heutige, sondern auch die zukünftige Qualität der Versorgung auf viele Jahre hinaus, warnt die Stiftung Kindergesundheit: Selbst renommierte Universitäts-Kinderkliniken haben immer weniger Möglichkeiten, kompetente Experten in wichtigen hochspezialisierten Fachdisziplinen aus- und weiterzubilden.

Ärztinnen und Ärzte, die sich auf sogenannte Subspezialitäten der Kinderheilkunde wie pädiatrische Gastroenterologie, Stoffwechselmedizin, Kinderneurologie, Immunologie oder Onkologie spezialisieren, können nämlich nur an wenigen Stellen an Universitätskliniken ausgebildet werden. In kleineren Kliniken oder Arztpraxen ist eine Weiterbildung dieser hochspezialisierten Kinderärzte nicht möglich.

Eine Bedrohung für die Erfolge der Kindermedizin

Durch die großen Fortschritte der Kindermedizin sind viele einst unheilbare Erkrankungen bei Kindern heute heilbar geworden, betont die Stiftung Kindergesundheit. Vor 60 Jahren bedeutete die Diagnose Krebs bei Kindern noch ein sicheres Todesurteil. Heute können dank der stetig weiterentwickelten Forschungsarbeiten der Kinderheilkunde vier von fünf Kindern mit einer Krebserkrankung dauerhaft geheilt werden.

Auch in der Versorgung schwer chronisch kranker Kinder haben Kinder- und Jugendärzte bereits Maßgebliches erreicht: So haben zum Beispiel Kinder mit Down-Syndrom, zystischer Fibrose oder Muskeldystrophie heute eine wesentlich höhere Lebenserwartung und eine wesentlich bessere Lebensqualität als noch vor 30 Jahren. Dies kann aber nur mit einer kompetenten und spezialisierten Betreuung erreicht werden.

Die Stiftung Kindergesundheit fordert für die Behandlung von Kindern, die an schweren, komplexen, chronischen und seltenen Erkrankungen leiden, umgehend eine faire und kostendeckende Vergütung, die sich am tatsächlichen Behandlungs- und Pflegeaufwand orientiert. Es sei dringend notwendig, den besonderen Bedürfnissen kranker Kinder auch unter den Bedingungen einer zunehmend ökonomisierten Medizin gerecht zu werden.

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