Neue Daten der fliegenden Heli-Ärzte: Innovative Versorgungsform verbessert die Lebensqualität von Patienten nach einem Schlaganfall
16.09.2021 - Weltweit einzigartiges Pilot-Projekt in der Schlaganfallversorgung rettet Nervenbahnen von München bis Barcelona
Dass durch das weltweit einzigartige Pilotprojekt „Flying Intervention Team“ (FIT) der München Klinik Harlaching bei der Behandlung eines Schlaganfalls rund 90 Minuten Zeit gespart werden können im Vergleich zur herkömmlichen Patientenverlegung, hat bereits eine erste Auswertung im vergangenen Jahr ergeben – und bedeutet für Schlaganfallpatienten pro Minute die Rettung von rund 1,9 Millionen Nervenzellen („Time is brain“). Nach rund 3 Jahren FIT konnten jetzt weitere Daten ausgewertet werden, auch mit Blick auf die langfristige Lebensqualität der Patienten. Die Ergebnisse stellte Projektleiter Dr. Gordian Hubert erstmals auf der Europäischen Schlaganfallkonferenz (European Stroke Organisation Conference, ESOC) der Fachwelt vor.
Schneller, besser, sicher: „Diese Daten machen uns Hoffnung“
Das FIT-Projekt ist im Februar 2018 gestartet. Die neue Auswertung umfasst den Zeitraum bis einschließlich Januar 2021 und vergleicht 134 FIT-Flüge mit 210 Patientenverlegungen. Es zeigt sich: FIT ermöglicht mehr Schlaganfallpatienten im Münchner Umland, die für einen speziellen Kathetereingriff (Thrombektomie) in Frage kommen, den rechtzeitigen Zugang zu einem solchen Eingriff. Nach FIT-Einsätzen wurde bei rund 20 Prozent mehr der in Frage kommenden Schlaganfallpatienten eine entsprechende Prozedur durchgeführt, als nach Verlegung in ein größeres Krankenhaus. Mit einer Erfolgsrate von 94 Prozent im Vergleich zu 88 Prozent verliefen die Thrombektomien bei den FIT-Flügen außerdem häufiger erfolgreich, während die Komplikationsrate im Vergleich zur Verlegepraxis auf vergleichbar niedrigem Niveau gehalten werden konnte. Auch langfristig zeigt FIT positive Effekte – so hatten die FIT-Patienten drei Monate nach dem Eingriff weniger Behinderungen und damit eine höhere Lebensqualität als die Verlegungspatienten.
Zeitersparnis bestätigt: FIT rettet Nervenbahnen von München bis nach Barcelona
Gleichzeitig bestätigten die neuen Daten erneut die Zeitersparnis um rund 1,5 Stunden, die bereits die Auswertung des Vorjahrs auf kleinerer Datenbasis ergeben hatte. In 90 Minuten würde das Gehirn bei einem Schlaganfall unbehandelt um 5,4 Jahre altern – durch die Zeitersparnis der FIT-Flüge im Vergleich zur Verlegepraxis können 1.260.000.000.000 Synapsen und 1.080.000 Meter Nervenbahnen gerettet werden, was einer Strecke von München nach Barcelona entspricht. „Ein großer Durchbruch in der Schlaganfallversorgung war vor einigen Jahren der Nachweis über den Nutzen der Thrombektomie gerade für schwerbetroffene Schlaganfallpatienten. Seitdem ist es die Herausforderung, regionale Unterschiede zu durchbrechen und eine flächendeckend schnelle Versorgungsstruktur zu schaffen. Mit FIT sind wir auf dem richtigen Weg – die Daten machen uns Hoffnung und sind sehr ermutigend. Wir wollen das Projekt in Südostbayern unbedingt weiterführen und ausbauen und so weitere Erkenntnisse gewinnen, um die Schlaganfallversorgung womöglich dauerhaft zu revolutionieren“, so Dr. Gordian Hubert, FIT-Projektleiter und Oberarzt der Klinik für Neurologie und neurologische Intensivmedizin in der München Klinik Harlaching.
Die Herausforderung: Viele Schlaganfallpatienten, wenige Spezialisten
Der Schlaganfall ist mit rund 270.000 jährlichen Betroffenen in Deutschland eine Volkskrankheit und hierzulande die dritthäufigste Todesursache. Vielen schwer betroffenen Patienten kann seit einigen Jahren eine neue Behandlungsmethode helfen: die Thrombektomie. Dabei wird das Blutgerinnsel, das eine Hirnarterie verstopft, mechanisch mithilfe eines Katheters entfernt und die Durchblutung wiederhergestellt. Der Eingriff erfordert eine hohe medizinische Expertise und muss so schnell wie möglich durchgeführt werden. Erhält der Patient die Behandlung rechtzeitig, lassen sich dadurch schwere Behinderungen auch bei schweren Verläufen oft vermeiden. Es gibt bislang jedoch nur wenige Spezialisten, die einen solch komplizierten Eingriff vornehmen können. Diese Neuroradiologen befinden sich meist in großen Schlaganfallzentren, welche sich wiederum in großen Städten bilden. Patienten, die ihren Schlaganfall auf dem Land erleiden, müssen für die Thrombektomie aufwändig in ein solches Zentrum verlegt werden.
Die Lösung: So funktioniert das „Flying Intervention Team“
Durch den Einsatz der fliegenden Ärzte („Flying Intervention Team“) können die Patienten, die eine Thrombektomie benötigen, nun viel schneller behandelt werden: Der Neuroradiologe und ein medizinisch-technischer Radiologieassistent fliegen zu zweit aus dem Zentrum in eine der 15 beteiligten Partnerkliniken im Radius von bis zu 150 Kilometern im Münchner Umland und führen direkt vor Ort den Eingriff durch. Während der Flugzeit kann der Patient in der Partnerklinik bereits auf den Eingriff vorbereitet werden – diese parallelen Abläufe sparen wertvolle Zeit, der Eingriff kann umgehend nach dem Eintreffen des Neuroradiologen durchgeführt werden. Außerdem ermöglicht die neue Methode den Patienten eine ganzheitlich wohnortnahe Behandlung.
Die Flüge wurden in der Pilotphase gemeinschaftlich von spezialisierten Neuroradiologen der München Klinik Harlaching und aus dem Klinikum Rechts der Isar der TU München übernommen. Um vergleichen zu können, ob die fliegenden Ärzte schneller sind als die bislang angewandte Patientenverlegung, wurde das Projekt während der Pilotphase im wöchentlichen Wechsel durchgeführt. In einer Woche wurden Patienten, die für die Thrombektomie in Frage kommen, in ein Schlaganfallzentrum mit spezialisierten Neuroradiologen verlegt. In der anderen Woche fliegen die Neuroradiologen direkt zum Patienten – und führen den Eingriff vor Ort in einer Partnerklinik im bayerischen Umland durch. Auf Basis der erhobenen Daten will sich die München Klinik nun dafür einsetzen, dass in Zukunft alle geeigneten Patienten in Südostbayern von dem neuen Modell profitieren können. Mit Ende der Pilotphase im Frühjahr 2021 wurden die Flugphasen bereits erweitert: Ein FIT-Team der München Klinik Harlaching ist nun jede Woche werktags von 8.00 Uhr – 16.30 Uhr sowie zusätzlich etwa einmal im Monat auch am Wochenende in Rufbereitschaft im Einsatz. Kooperationspartner für die Helikopterflüge sind die ADAC Luftrettung gGmbH sowie die HTM Helicopter Travel Munich GmbH.
Telemedizin bringt hohe Versorgungsqualität aus der Stadt auch auf das Land
Das „Flying Intervention Team“ ist Teil und Weiterentwicklung des telemedizinischen Schlaganfallnetzwerks TEMPiS, das bereits im Jahr 2003 gegründet wurde. TEMPiS gehört mit 24 angebundenen Kliniken (davon 15 Kliniken, die zusätzlich am FIT-Projekt beteiligt sind) in Südostbayern, zwei Telemedizinzentren in der München Klinik Harlaching und dem medbo Bezirksklinikum Regensburg und mehr als 10.000 Patienten pro Jahr zu den größten Netzwerken seiner Art in Europa. Die Ärzte in den Partnerkliniken werden bei der neurologischen Untersuchung, der bildgebenden Diagnostik und der Therapieentscheidung von ausgewiesenen Schlaganfallspezialisten in den Zentren telemedizinisch, also per „Video-Liveschalte“, unterstützt. Mit bis heute über 80.000 durchgeführten Telekonsilen hat sich das Konzept des Netzwerks als Erfolg erwiesen: höhere Versorgungsqualität, geringere Sterblichkeit, kürzere Verweildauer und frühere Diagnose heben den Versorgungsstandard in ländlichen Regionen auf das gleiche Niveau wie in der Stadt. Stellt sich im Telekonsil heraus, dass bei dem Patienten eine Thrombektomie durchgeführt werden muss, machen sich die fliegenden Ärzte per Helikopter auf den Weg.
Mehr Informationen zum Schlaganfallnetzwerk TEMPiS unter: www.muenchen-klinik.de/tempis-fit