Medizin & Technik

Neue Erkenntnisse zur Dynamik neuronaler Netze

02.03.2023 - Das Gehirn ist ein faszinierendes und rätselhaftes Organ: Es verarbeitet Sinneseindrücke, steuert unseren Körper, speichert Informationen und formt unser Bewusstsein.

Wie genau das hochkomplexe dynamische Netzwerk aus rund 100 Milliarden Nervenzellen räumlich und zeitlich zusammenarbeitet, ist eines der größten Rätsel der Wissenschaft. „Nur wenn wir neuronale Funktionen auf allen Komplexitätsebenen verstehen, können wir innovative Therapien neurologische und psychiatrische Erkrankungen entwickeln“, sagte Prof. Andreas Engel, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Klinische Neurophysiologie und Funktionelle Bildgebung anlässlich des Kongresses für Klinische Neurowissenschaften in Hamburg.

Fast alle sensomotorischen und kognitiven Prozesse beruhen auf der Aktivität großer Netzwerke in unserem Gehirn. Um Informationen auszutauschen und zu integrieren, müssen sich verschiedene Hirnregionen dynamisch untereinander koppeln. Die Existenz solcher Kopplungen wurde vor mehr als 30 Jahren entdeckt, aber es ist immer noch nicht klar, welche funktionelle Bedeutung sie genau haben. „Wenn wir die Mechanismen an gesunden Probanden entschlüsselt haben, können wir auch neurologische und psychiatrische Krankheitsbilder, bei denen die Kommunikation der Hirnnetzwerke verändert ist, besser verstehen“, so Prof. Engel, Direktor des Instituts für Neurophysiologie und Pathophysiologie am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf . Er ist unter anderem Sprecher des DFG-Sonderforschungsbereichs 936 „Multi-Site Communication in the Brain“ – das interdisziplinäre Forschungskonsortium untersucht in enger Kooperation von Neurophysiologie, Neurologie, Psychiatrie, Systemischen Neurowissenschaften und der Computational Neuroscience die Kommunikation in neuronalen Netzen des Gehirns. Zu den Methoden der Netzwerk-Neurowissenschaftler zählen z. B. Elektroenzephalografie (EEG, Elektroenzephalogramm), Magnetenzephalografie (MEG), strukturelle und funktionelle Magnetresonanztomografie (MRT), die multifokale transkranielle Magnetstimulation (TMS) und die Modellierung komplexer neuronaler Netzwerke am Computer.

Die Rolle kortikaler Netzwerkdynamik für kognitive Funktionen

Die bisherigen Ergebnisse aus Modellberechnungen, neurowissenschaftlicher Bildgebung und Elektrophysiologie weisen darauf hin, dass dynamische Kopplungen der Signale in der Hirnrinde (Kortex) eine Schlüsselrolle bei Entstehung von Wahrnehmung, Aufmerksamkeit, Gedächtnisleistungen, Sprache, Denken und Problemlösefähigkeiten haben. „Aus dem Vergleich von Daten zur Dynamik neuronaler Signale im gesunden und im erkrankten Gehirn konnten auch Hinweise darauf gewonnen werden, welche Rolle die veränderte Netzwerkdynamik bei Erkrankungen, wie zum Beispiel der Schizophrenie, spielt“, erläuterte Engel.

Netzwerkdynamik als Biomarker für den Verlauf psychiatrischer Erkrankungen

Bei Personen mit ersten Symptomen oder dem Risiko einer Psychose haben MEG-Experimente zur Messung der Hirnaktivität krankheitsbedingte Defizite im Vergleich zu gesunden Kontrollpersonen sichtbar gemacht. „Die charakteristischen Veränderungen der Hirnaktivität im primären auditorischen Kortex kommen sogar als potenzielle Biomarker für die Vorhersage zum klinischen Verlauf von psychiatrischen Erkrankungen wie Psychosen infrage“, ergänzte Engel.

Gleichzeitige Verarbeitung von Sinneseindrücken beruht auf Netzwerken

Bei der Verarbeitung von Sinneseindrücken laufen viele Prozesse parallel ab. Der Mensch ist multitaskingfähig und kann z. B. gleichzeitig aufräumen und Radio hören. Im Alltag ist der Prozess der multisensorischen Integration von großer Bedeutung, der den Informationsaustausch zwischen den jeweils beteiligten Sinnessystemen ermöglicht. Bei Erkrankungen kann die gleichzeitige Verarbeitung von Sinneseindrücken verändert sein. Am Beispiel der Verarbeitung von visuellen und akustischen Signalen haben Berliner Forscher mittels EEG-Messungen der Gehirnaktivität herausgefunden, dass die multisensorische Integration dabei helfen kann, Aufmerksamkeitsdefizite auszugleichen, die bei der Verarbeitung in einzelnen Sinneskanälen bei Personen mit Schizophrenie bestehen.

Pupillenerweiterung zeigt den Einfluss neuromodulatorischer Aktivität auf Gehirnnetzwerke

In einer sich verändernden Umwelt müssen wir unser Verhalten ständig flexibel anpassen. Möglich wird dies unter anderem durch die Freisetzung von Neuromodulatoren aus subkortikalen Kerngebieten, die die neuronale Erregbarkeit im Rest des Gehirns dynamisch steuern. Dies ließ sich bisher nur schwer nicht invasiv erfassen. Neuere Forschungen weisen nun auf einen engen Zusammenhang zwischen Pupillenerweiterung und der Wirkung neuromodulatorischer Signale auf Aktivitätsmuster der Hirnrinde hin. „Die Forschungsergebnisse zur Verbindung zwischen Neuromodulation, kortikaler Dynamik und Verhalten schaffen eine Grundlage für ein besseres Verständnis der Anpassung kognitiver Prozesse an eine Umwelt, in der sich Reize immer schneller verändern“, kommentierte Engel.

Modelle der Netzwerkdynamik könnten helfen, Bewusstsein zu erklären

Weitere Forschungsaktivitäten zielen auf unterschiedliche Netzwerkdynamiken im Gehirn ab, die im Wachzustand, im Schlaf oder unter Narkose auftreten. Die fortlaufende elektrische Hirnaktivität erzeugt reproduzierbare EEG-Muster auf der Kopfhautoberfläche, die Veränderungen des Bewusstseinszustands widerspiegeln. Der Veränderung dieser EEG-Muster ist charakteristisch für verschiedene Formen des reduzierten Bewusstseins im Schlaf oder unter Narkose. Um diese Veränderungen genau zu erfassen, sind aber sehr wahrscheinlich komplexe Modelle der Aktivität des gesamten Gehirns erforderlich.

„Die komplexe Netzwerkdynamik in den Schaltkreisen der Hirnrinde ist ausschlaggebend für unsere kognitiven Fähigkeiten, wie Wahrnehmung, Aufmerksamkeit, Gedächtnisleistungen, Sprache und Intelligenz. Wie die Netzwerk-Kommunikation auf unterschiedlichen räumlichen und zeitlichen Skalen abläuft, wird aktuell intensiv erforscht, und wir erhoffen uns hiervon substantielle Fortschritte im Verständnis von Erkrankungen des Gehirns“, resümierte Engel.

Kontakt

Deutsche Gesellschaft für Klinische Neurophysiologie und Funktionelle Bildgebung

Oettingenstraße 25
80538 München
Deutschland

+49 89 46 14 86-20

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