Aus den Kliniken

Online-Simulator für Covid-19-Fallzahlen

20.10.2020 - Ein Online-Simulator sagt deutlich ansteigende Covid-19-Fallzahlen für alle Bundesländer voraus.

Wie viele Covid-19-Patienten müssen schon bald ins Krankenhaus? Wie viele brauchen intensivmedizinische Betreuung? Saarbrücker Forscher haben für solche Vorhersagen ein mathematisches Modell entwickelt, das auf der Basis umfangreicher Daten präzise Ergebnisse für alle Bundesländer liefert. In den Szenarien des Online-Simulators wird sichtbar, dass es in Deutschland in zwei bis drei Wochen 20.000 neue Infektionsfälle pro Tag geben könnte, sollte die Ansteckungsrate so hoch bleiben wie derzeit.

Die Saarbrücker Forscher veröffentlichen regelmäßig detaillierte Prognosen für alle Bundesländer, die der Politik und dem Gesundheitswesen als Entscheidungshilfe dienen sollen. „Aktuell verzeichnen wir leider einen starken Anstieg der Reproduktionszahl (R-Wert), die aussagt, wie viele Menschen ein Infizierter im Durchschnitt ansteckt. In Deutschland wird der R-Wert aktuell auf 1,56 abgeschätzt, in Saarland liegt er bereits bei 2,0, das heißt ein Infizierter steckt im Schnitt zwei weitere Menschen an. Damit ist auch bei der Krankenhausbelegung mit einem deutlichen Anstieg zu rechnen. Wenn die Infektionslage so anhält wie derzeit, erwarten wir in einzelnen Bundesländern wie dem Saarland in zwei bis vier Wochen ähnlich viele COVID-19 Patienten auf den Normal- und Intensivstationen, wie sie in Spitzenzeiten der ersten Welle Mitte April zu verzeichnen waren“, warnt Thorsten Lehr, Professor für Klinische Pharmazie der Universität des Saarlandes. Gemeinsam mit seinem Team und Forscherkollegen hat er das mathematische Modell entwickelt, auf dem auch der Online-Simulator aufbaut.

Die Untersuchungen der Saarbrücker Forscher haben die Annahme bestätigt, dass die Anzahl der Krankenhauspatienten stark vom Alter der infizierten Personen abhängt. „Derzeit sind vor allem jüngere Menschen infiziert, entsprechend niedrig ist auch die Zahl der hospitalisierten Patienten einschließlich der Intensivpatienten. Wir erwarten jedoch bereits in zwei bis drei Wochen eine Versiebenfachung der dann nötigen intensivmedizinischen Betreuung im Vergleich zum Sommer und gehen bundesweit von 200.000 Covid19-Erkrankten, also aktiven Fällen aus, wenn die Infektionsraten so bleiben wie derzeit“, erläutert Thorsten Lehr. Dann werde es auch wieder eine stärkere Durchmischung mit älteren Bevölkerungsgruppen geben und es könnten vermehrt ältere Patienten betroffen sein.


Aktuelles Simulationsmodell

“Die Zahl der Todesfälle steigt bereits jetzt auf beunruhigende Weise. Sie könnte sich mit mehrwöchiger Verzögerung stark erhöhen, denn nach wie vor versterben ein Fünftel der Covid19-Intensivpatienten. Das haben unsere Berechnungen bestätigt“, sagt Thorsten Lehr. Wenn noch mehr über 60-Jährige erkrankten, könnten diese die derzeit freien Intensivbetten schneller füllen, als es nach dem vergleichsweise ruhigen Sommer zu erwarten war. „Einen solch dramatischen Anstieg spiegelt unser Simulationsmodell aktuell in den Grafiken nicht wider, da wir die künftige Altersstruktur der Patienten noch nicht vorhersagen können“, erläutert der Pharmazie-Professor. Er warnt aber zugleich davor, dass selbst wenn es gelingen würde, bis Anfang November die Reproduktionszahl wieder unter den Wert 1 zu drücken, dennoch bis Ende des Jahres bundesweit mit täglichen Fallzahlen von über 10.000 Infizierten zu rechnen sei.

Schon zu Beginn der Corona-Pandemie in Deutschland war die Sorge groß, dass die Intensivbetten und Beatmungsplätze in den Kliniken nicht ausreichen könnten. „Wir haben daher nicht nur die Zahl der Covid-19-Patienten, ihre stationäre Behandlung und die Todesfälle erfasst, sondern auch die vorhandenen Kapazitäten in deutschen Kliniken analysiert. So konnten wir sehr früh vorhersagen, wie viele Krankenhausbetten, intensivmedizinische Plätze oder Beatmungsplätze für die jeweiligen Infektionszahlen benötigt werden“, erläutert Thorsten Lehr, Prof. für Klinische Pharmazie der Universität des Saarlandes.

Breite Datenbasis

Das Besondere dieses Covid-19-Forschungsprojektes ist die breite Datenbasis, die für die aufwändigen Berechnungen verwendet wird: Neben den Erhebungen des Robert-Koch-Instituts sowie der Kreis- und Landesgesundheitsämter werden beispielsweise die recherchierten Corona-Fallzahlen der „Berliner Morgenpost“ ergänzt. Zudem werden klinische Daten von über 8000 hospitalisierten COVID-19 Patienten aus über 100 deutschen Kliniken und verschiedene Angaben der Gesundheitsministerien ausgewertet. „Wir analysieren zudem, wie sich die politischen Interventionen während der Pandemie auf das Infektionsgeschehen auswirken. In unseren Tabellen und Schaubildern lässt sich genau nachvollziehen, welche Effekte etwa die Kontaktbeschränkungen oder die Schulschließung hatten. Diese Erkenntnisse nutzen wir für unsere Prognosen und verbessern damit kontinuierlich das zugrundeliegende Simulationsmodell. Wir sind sehr erfreut, wie präzise unsere Berechnungen die tatsächliche Entwicklung vorhersagen können“, sagt Thorsten Lehr.

Die Saarbrücker Forscher haben ein mathematisches Modell entwickelt, dass sich im Prinzip auf jedes Land anwenden lässt, wenn man die entsprechende Datengrundlage dafür hat. „Diese haben wir inzwischen nicht nur für Deutschland, sondern auch für die USA, Frankreich, Italien, Spanien und Großbritannien aufgebaut. Auch für diese Länder können wir verschiedenen Szenarien genau vorhersagen und berechnen, was passieren würde, wenn zum Beispiel das Kontaktverbot zu wenig beachtet werden“, erklärt der Pharmazie-Professor. Er weist daraufhin, dass jeder interessierte Laie mit Hilfe des Online-Simulators durchspielen könne, was passiert wäre, wenn sich die Reproduktionszahl ändern würde.

An dem Covid-19-Simulationsprojekt sind neben dem Team von Professor Thorsten Lehr auch Forscher am Universitätsklinikums des Saarlandes beteiligt. Dazu zählen die Teams um Professorin Sigrun Smola und Dr. Jürgen Rissland am Institut für Virologie, und um Professor Thomas Volk und Professor Sascha Kreuer am Institut für Anästhesiologie, Intensivmedizin und Schmerztherapie.
 

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