Aus den Kliniken

Pflege hochaufwändiger Patienten im Krankenhaus - Das Diktat der Strichliste

19.08.2011 -

Die Wahrnehmung beeinträchtigt, krankhaft veränderte Bewegungen, fehlende Selbstständigkeit oder Abwehr bei der Körperhygiene: Die Pflege von Menschen mit kognitiven Einschränkungen wie einer Demenzerkrankung oder motorisch-funktionellen Behinderungen beispielsweise nach einem Schlaganfall fordert das Personal im Krankenhaus besonders intensiv. Sie kostet Pflegezeit und damit Geld.

Bisher wurden solche „hochaufwändigen Patienten" in der Vergütung zu wenig berücksichtigt, waren die Pflegeminuten innerhalb der PPR (Pflege-Personalregelung) für sie zu knapp bemessen. Deshalb wurde vom Deutschen Pflegerat (DPR) der Pflegekomplexmaßnahmen-Score (PKMS) entwickelt - als Instrument, um „hochaufwändige Pflege" auf Normalstationen im Krankenhaus erfassen und die Kosten ab 2012 mit den Krankenkassen abrechnen zu können.

Der PKMS Version 1.0 definiert die Merkmale für „hochaufwändige" Pflege. Er benennt Gründe, die erfüllt sein müssen, und legt die Pflegemaßnahmen für Kinder (PKMS-K), Jugendliche (PKMS-J) und Erwachsene (PKMS-E) fest - für Erwachsene sind zum Beispiel 35 Gründe formuliert.

Für Leistungen nach Vorgaben des PKMS werden während des Krankenhausaufenthaltes Aufwandspunkte vergeben. Ist eine vorbestimmte Gesamtzahl erreicht, lösen diese den Operationen- und Prozedurenschlüssel (OPS) 9-20 für die Abrechnung hochaufwändiger Pflege im DRG (Diagnosis Related Groups)-System aus. Somit geht der benötigte Mehraufwand in die Kalkulation nach diagnosebezogenen Fallgruppen ein. Ab 2012 soll dann für DRG-Fallgruppen mit OPS 9-20 mehr Geld fließen als für solche ohne. Nach bisherigen Erhebungen sind etwa 0,5 bis 1 Prozent der Patienten gemäß PKMS hochaufwändig.

Bereits seit 2010 ist der OPS 9-20 im DRG-Katalog enthalten und die Krankenhäuser sollen den Code anwenden. Die Reaktionen sind kontrovers. Es ist sicher ein Schritt in die richtige Richtung - zur höheren Wertschätzung von Pflegeleistungen in den Krankenhäusern: Denn mit der Einführung des OPS 9-20 besteht eine zusätzliche Möglichkeit, dass Pflege zu höheren Erlösen in den Einrichtungen beitragen und damit zu einer neuen Position gelangen kann.

„Geschäftsführer und Medizincontroller erwarten zusätzliche Einnahmen. Auch wenn die Höhe der zusätzlichen Erlöse derzeit noch nicht bekannt ist, steht zu befürchten, dass ein Teil davon aufgefressen wird durch den zusätzlichen Personalaufwand für die ausufernde Bürokratie", gibt Andrea Lemke, Pflegedirektorin des Jüdischen Krankenhauses Berlin und Mitglied im Lenkungsausschuss DRG & Pflege im DPR, zu bedenken. Es gebe keine Berufsgruppe, die ihre Tätigkeit so lückenlos dokumentieren müsse. Die starre Struktur berücksichtige außerdem die Autonomie des Patienten zu wenig. „Das verringert die Akzeptanz bei Pflegekräften." Dabei sei die Personaldecke in den Krankenhäusern mehr als dünn, der Abbau von circa 50.000 Stellen im Klinikbereich in den letzten 10 Jahren ist im Alltag spürbar. Wie andere Kritiker moniert Lemke die Komplexität des PKMS.

„Pflege wird nur unter einem eingeschränkten Blickwinkel betrachtet. Mindestens zwölf Mal umlagern gilt zum Beispiel als angemessen - das ist Pflege nach Strichliste. Die PKMS vernachlässigen das fachübergreifende Zusammenspiel mit anderen Bereichen völlig", stellt Dr. Patrick Jahn fest, Leiter Pflegeforschung und Entwicklung am Universitätsklinikum Halle und Mitglied im Lenkungsausschuss DRG & Pflege des DPR. „Ist es für eine zur Akademisierung strebende Berufsgruppe angemessen, ihre Leistungen in Strichlisten zu führen, ohne dabei einen unmittelbaren Bezug zum Zustand des Patienten abzubilden? Das kann keine zeitgemäße Basis sein", so Jahn. Die heutigen Instrumente seien zu unbeweglich, um den pflegerischen Alltag im DRG-System adäquat abzubilden. Die im PKMS erfassten Leistungen könnten lediglich als eine Form der hochaufwändigen Pflege betrachtet werden.

Der Bundesverband Geriatrie, der DPR-Mitglied ist, beanstandet sogar, dass sich der PKMS-E in der bisherigen Version eher als Hemmnis für die effiziente und fachgerechte Versorgung geriatrischer Patienten erweisen könnte. Nicht genügend einbezogen würden zum Beispiel die hochaufwändigen Leistungen des Konzeptes der „Aktivierend-therapeutischen Pflege in der Geriatrie", bei der das Wiedererlangen und Erhalten von Alltagskompetenz im Mittelpunkt steht. Insgesamt gehe der Zusatzaufwand für Datenerfassung und Schulungen von der Zeit ab, die für die Patienten zur Verfügung stehe. Dabei verweist der Verband auf Testläufe mit der aktuellen Version 1.0 in Einrichtungen der stationären Geriatrie: So seien in einem der Häuser 10,37 Wochenstunden für das Erstellen von Erfassungsbögen, die Dokumentation von Leistungen und die Einweisung von Mitarbeitern nötig gewesen.

„Derzeit wird vordergründig die ökonomische und nicht die fachlich-inhaltliche Seite betrachtet. Die Diskussion hat sich anscheinend auf finanzielle Fragen reduziert", beobachtet Anke Wittrich, stellvertretende Geschäftsführerin des Bundesverbandes Geriatrie. Zurzeit werde allein darüber debattiert, wie die nötige Dokumentation geleistet werden könne. Die eigentlichen Probleme gerieten aus den Augen - dies seien neben der Pflegequalität der demografische Wandel und die Überalterung des Pflegepersonals. Denn in vielen Krankenhäusern liege das Durchschnittsalter der Pflegekräfte bei nahezu 50 Jahren, ergänzt Andrea Lemke.

Inzwischen hat eine Expertengruppe des DPR eine Weiterentwicklung des PKMS-E erarbeitet. Diese Version 2.0 wurde in 44 Einrichtungen bundesweit mit insgesamt 25.000 stationären Betten getestet. Knapp 75 Prozent bescheinigten ihr gegenüber der Vorgängerversion einen Zeitspar-Effekt. Die überarbeitete Fassung des PKMS-E wurde fristgerecht in das Vorschlagsverfahren 2012 beim Deutschen Institut für Medizinische Dokumentation und Information (DIMDI) eingereicht. Auf der PFLEGE + HOMECARE LEIPZIG wird Dr. Jahn am 27. September 2011 den aktuellen Stand darstellen.

Die PFLEGE + HOMECARE LEIPZIG findet vom 27. bis 29. September 2011 statt. Mit mehr als 140 Veranstaltungen und 270 Referenten zählt der begleitende Kongress auch in diesem Jahr zu den größten Fortbildungsveranstaltungen des Gesundheitswesens in Deutschland. Mehr als 2.000 Kongressteilnehmer werden in Leipzig erwartet. Die „Pflege hochaufwändiger Patienten im Krankenhaus" steht am 27. September 2011 auf dem Programm des Managementkongresses (Teil 1 9.00 bis 10.30 Uhr; Teil 2 11.00 bis 12.30 Uhr). Partner ist der DPR, zu den Themen zählen die Integration der PKMS in ein Klinikinformationssystem sowie Konzepte der aktivierend-therapeutischen Pflege.

 

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