Schmerzmedizin in Deutschland oft unerreichbar
05.06.2024 - Eine noch unveröffentlichte Analyse hat erstmals sämtliche Standorte teil- und vollstationärer schmerzmedizinischer Angebote in Deutschland kartiert. Das Ergebnis ist ernüchternd: Für viele chronische Schmerzpatientinnen und -patienten bleibt eine adäquate Versorgung unerreichbar.
Auf der heutigen Pressekonferenz zum Aktionstag gegen den Schmerz präsentierten Experten der Deutschen Schmerzgesellschaft e. V. die wichtigsten Daten aus der Studie und ordneten die Erkenntnisse daraus in die derzeitigen Pläne der Krankenhausreform ein.
Chronisch Schmerzkranke sind oft stark in ihrer Mobilität eingeschränkt. Die tägliche Fahrt zur Therapie wird zur unüberwindbaren Hürde, die die ohnehin schon belasteten Patientinnen und -patienten zusätzlich erschöpft und die Therapieerfolge konterkariert. „Viele Betroffene können ein interdisziplinär multimodales Therapieangebot (IMST) nicht in Anspruch nehmen, wenn sie zu weit weg wohnen, kein Auto haben, zu wenig Geld für tägliche Anfahrten und Parkgebühren, keine angemessene Anbindung an den öffentlichen Nahverkehr haben, oder schlichtweg im Rahmen ihrer Erkrankung zu erschöpft sind, um häufige Fahrten zu schaffen“, gibt Professor Dr. med. Frank Petzke, Präsidiumsmitglied der Deutschen Schmerzgesellschaft e.V., zu bedenken. „Zur Überprüfung der realistischen Versorgungslage ist es daher wichtig, Daten zu erheben, die nicht nur die Versorgungsstrukturen, sondern auch realistische Erreichbarkeit entsprechender Einrichtungen aus Patientenperspektive aufzeigen.“ Das sei mit der aktuellen noch unveröffentlichten Studie gelungen.
Unerreichbare und zu wenige Therapiezentren – ein Versorgungsproblem
In der Untersuchung wurden für 1.000 Modellpatienten in Deutschland die Fahrzeiten zu den nächstgelegenen schmerzmedizinischen Einrichtungen analysiert. Hier ergaben sich besonders für teilstationäre Einrichtungen wie Schmerztageskliniken und universitäre Schmerzambulanzen erschreckende Zahlen. Insbesondere mit öffentlichen Verkehrsmitteln ist für 68 bis 75 Prozent der Betroffenen der Weg nur unrealistisch zu bewältigen.
Wesentliche Zahlen der Studie im Überblick:
• Universitäre Schmerzambulanzen: Etwa 48 km einfache Anfahrtsstrecke, bis maximal 161 km. Für die Anfahrt mit dem Auto in 70 Prozent kritisch und in 49 Prozent nicht realistisch, bei Anreise mit ÖPV in 80 Prozent kritisch, in 68 Prozent nicht realistisch.
• 388 vollstationäre Einrichtungen (davon 259 mit >75 Patienten/Jahr analysiert): Durchschnittlich 26 km vom Wohnort entfernt, mit Extremwerten bis zu 244 km. Für Anfahrt mit dem Auto in 39 Prozent kritisch und in 14 Prozent nicht realistisch, bei Anreise mit ÖPV in 61 Prozent kritisch, in 48 Prozent nicht realistisch. Hier stellt sich auch das Problem der Begründung für die Notwendigkeit einer vollstationären Behandlung, die nicht für alle Patienten mit dringlichem Therapiebedarf gegeben ist. Fehlende Erreichbarkeit von Alternativen ist keine ausreichende Begründung.
• 93 teilstationäre Schmerztageskliniken (fast die Hälfte davon liegt in Bayern): Im Durchschnitt 51 km entfernt, maximal 237 km. Für Anfahrt mit dem Auto in 68 Prozent kritisch und in 49 Prozent nicht realistisch, bei Anreise mit ÖPV in 83 Prozent kritisch, in 75 Prozent nicht realistisch.
• 1.089 ambulante spezialisierte schmerzmedizinische Einrichtungen: Im Durchschnitt 13 Minuten bzw. 13 km entfernt.
Die ambulante, spezialisierte Basisversorgung ist bei weitem zahlenmäßig nicht ausreichend, um die Menge der Schmerzpatienten ambulant „aufzufangen“. Im Zuge der Versorgungsengpässe haben die kassenärztlichen Vereinigungen die Fallzahlen in der Versorgung von niedergelassenen, ambulant tätigen spezialisierten Schmerzmedizinern schon sehr großzügig nach oben gesetzt – auch wenn dies die Behandlungsqualität einschränkt. Rechnet man auf die identifizierten Behandelnden diese erhöhten Fallzahlen hoch, würde dies in Deutschland die Versorgung von maximal rund einer halben Million Menschen mit chronischen Schmerzen ermöglichen. „Doch tatsächlich haben wir bis zu 6 Millionen Betroffene, die eine hochspezialisierte ambulante Schmerztherapie benötigen. Daran wird das Versorgungsdefizit sehr deutlich“, erklärt Petzke, Leiter der Abteilung Schmerzmedizin an der Klinik für Anästhesiologie am Universitätsklinikum Göttingen. Zur oft schlechten Erreichbarkeit komme also noch das mangelhafte Versorgungsangebot in der Fläche hinzu. Eine ambulante leitliniengerechte Therapie ist somit oft nicht oder nur schwierig umsetzbar. Insbesondere interdisziplinär ausgerichtete ambulante Behandlungsangebote sind in der aktuellen Versorgungsstruktur gar nicht vorgesehen. Bis zu 60 Prozent der aktuell niedergelassenen Schmerztherapeutinnen und-therapeuten werden in den nächsten 10 Jahren aus der Versorgung ausscheiden.
Auch die Krankenhausreform der Bundesregierung wird hier, wie es derzeit aussieht, leider zu keiner positiven Veränderung beitragen. Im Gegenteil: „Da Schmerz keine eigenen „Leistungsgruppe“ mit eigenen Vorhaltepauschalen und einer Planungsperspektive in der aktuellen Krankenhausreform wird, drohen insbesondere nötige spezialisierte Zentren weiter wegzufallen und sich die ohnehin schon sehr ausgedünnte Versorgung für Schmerzpatientinnen und -patienten weiter zu verschlechtern“, so Petzke. Es fehlen gute Versorgungsstrukturen und eine flächendeckende Schmerzexpertise.
Auf dieses Problem weist auch der aktuelle Beschluss des Deutschen Ärztetages (Mainz 7.05. bis 10.05.2024) hin: „…in den Plänen der Bundesregierung zur Klinikreform ist eine Förderung der spezialisierten Schmerzmedizin bisher nicht vorgesehen. Eine interdisziplinäre multimodale Schmerztherapie wird aktuell in rund 450 Kliniken durchgeführt. Aktuell kommt es bereits zu Schließungen schmerzmedizinischer Einrichtungen, Neuplanungen werden eingestellt (…) Die teil- und vollstationäre schmerzmedizinische Versorgung ist ebenso wie eine umfassende ambulante Betreuung unerlässlich für eine Gewährleistung der Versorgungssicherheit von chronischen Schmerzpatienten in Deutschland.“
„Die Zahl der Schließungen schmerzmedizinischer Einrichtungen und die fehlende Planungsperspektive sind alarmierend in Anbetracht steigender Zahlen von Betroffenen und der notwendigen Sicherung der Ausbildung zukünftiger Schmerzspezialisten", kritisiert Petzke. „Wir fordern die Bundesregierung, die Fraktionen des Deutschen Bundestags und alle an der Krankenhausreform beteiligten Akteure auf Bundes- und Landesebene dazu auf, die Strukturen der Schmerzmedizin zu stärken, statt zu schwächen“ ergänzt Petzke. „Dazu bedarf es unter anderem die Einführung einer eigenen Leistungsgruppe der `Interdisziplinären multimodalen Schmerzmedizin‘ mit entsprechenden Qualitätsvorgaben und Vorhaltepauschalen bei der Krankenhausreform!“