Medizin & Technik

Wie Gedanken Prothesen zum Leben erwecken

21.05.2021 - Invasive Gehirn-Computer-Schnittstellen zielen darauf ab, die Lebensqualität schwerstgelähmter Menschen zu verbessern. Bewegungsintentionen werden im Gehirn ausgelesen und diese Informationen genutzt, um robotische Gliedmaßen zu steuern.

Welche Fehler bei der Kommunikation zwischen Gehirn und robotischer Prothese auftreten können und welche davon besonders ins Gewicht fallen, hat ein Forschungsteam am Knappschaftskrankenhaus Bochum Langendreer, Klinikum der Ruhr-Universität Bochum, untersucht. Mithilfe eines Virtual-Reality-Modells fanden die Gruppe heraus, dass eine fehlerhafte Ausrichtung der Prothese, des sogenannten End-Effektors, zu einem messbaren Leistungsverlust führt.

Die Ergebnisse veröffentlichten die Bochumer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler um Dr. Christian Klaes aus der Abteilung Neurochirurgie am 25. Februar 2021 in der Zeitschrift „Scientific Reports“.

Drei Hauptfehlerquellen

Gehirn-Computer-Schnittstellen können schwerstgelähmten Patientinnen und Patienten Bewegungen einer Prothese ermöglichen. Bei der invasiven Methode übersetzt ein in das Gehirn implantiertes Messgerät die Signale der Nervenzellen in Steuersignale für den End-Effektor, beispielsweise eine robotische Armprothese. Die Bochumer starteten unter der Annahme, dass die Steuerung des End-Effektors im Wesentlichen von drei Faktoren negativ beeinflusst wird: dem Dekodierfehler, dem Rückkopplungsfehler sowie dem Ausrichtungsfehler.

Der Dekodierfehler beschreibt dabei den Unterschied zwischen der wirklichen Bewegungsabsicht des Patienten und der aus den Gehirnsignalen vom Decoder entschlüsselten Bewegungsabsicht. Ein Ausrichtungsfehler tritt auf, wenn der End-Effektor der Gehirn-Computer-Schnittstelle relativ zum natürlichen Arm des Teilnehmers falsch positioniert ist. Der Rückkopplungsfehler des Gehirn-Computer-Schnittstellen-Systems entsteht durch fehlendes somatosensorisches Feedback, also die fehlende Rückmeldung des Roboterarms über die Berührung. Das Bochumer Team untersuchte die Ausrichtungs- und Rückkopplungsfehler – und zwar unabhängig vom Dekodierfehler und auch unabhängig voneinander mithilfe eines Virtual-Reality-Modells.

Eins-zu-Eins-Übersetzung von Bewegungsabsichten in Bewegungen

„Gesunde Studienteilnehmer ohne sensomotorische Störungen schlüpften in der virtuellen Realität in die Rolle von Patienten mit motorischen Funktionsstörungen“, sagt Robin Lienkämper, Erstautor der Studie. „Unser Modell bietet so eine Eins-zu-Eins-Übersetzung von Bewegungsabsichten in End-Effektor-Bewegungen, vergleichbar mit der eines Patienten, der einen fehlerfrei arbeitenden Decoder verwendet.“

In der virtuellen Realität hatten die Probandinnen und Probanden die Aufgabe, mit einem Stift Formen zu zeichnen – ein Quadrat, einen Kreis, einen Stern, eine Spirale sowie eine asymmetrische Form. Das entspricht einer häufig verwendeten Aufgabe in Experimenten zu Gehirn-Computer-Schnittstellen, mit der sich die motorische Leistung unter verschiedenen Bedingungen bewerten und vergleichen lässt.

Der Controller wurde von den Probandinnen und Probanden im Versuch als Stift wahrgenommen. Den gewünschten Rückkopplungs-Effekt erreichten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler dadurch, dass die Testperson, während sie in der virtuellen Welt zeichnete, an einem realen Tisch saß und der Controller Kontakt mit der Tischoberfläche hatte. Zur Kontrolle des Effekts gab es zwei Gruppen: Eine Gruppe erhielt indirektes haptisches Feedback, die andere nicht. Das heißt, dass bei der zweiten Gruppe der physische Tisch entfernt wurde, während der Tisch in der virtuellen Realität weiterhin sichtbar blieb.

Roboterarm wird idealerweise ins Körperschema aufgenommen

Anhand der erfassten Daten zeigte das Forschungsteam, dass das Fehlen des indirekten haptischen Feedbacks allein einen geringen Einfluss hat, aber den Effekt des Ausrichtungsfehlers verstärkt. Aus den Ergebnissen deuteten die Forschenden außerdem, dass eine natürlich positionierte Prothese die Leistung von Patientinnen und Patienten mit invasiver Gehirn-Computer-Schnittstelle signifikant verbessern könnte. Sie nehmen auch an, dass sich eine Verankerung des Roboterarms in das eigene Körperbewusstsein positiv auswirken und die motorische Leistung steigern würde. Idealerweise beziehe ein Patient, der eine Gehirn-Computer-Schnittstelle verwende, den Roboterarm in sein eigenes Körperschema mit ein.

Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler unterstrichen in ihrer Studie abschließend die Bedeutung der Entwicklung von End-Effektoren, die eine bessere Verkörperung und eine natürlichere Positionierung ermöglichen. Zu berücksichtigen seien dabei beispielsweise Lösungen wie Exoskelette oder funktionelle Muskelstimulation.

„Die Zukunft der Forschung liegt nun darin, die wissenschaftlichen Ergebnisse mithilfe der Ingenieurwissenschaften zum Patienten zu bringen“, so Robin Lienkämper. Er rechne damit, dass durch das Engagement der Wirtschaft bereits in fünf bis zehn Jahren alltagstaugliche Anwendungen vorliegen würden.

Förderung

Die Studie wurde durch den Sonderforschungsbereich 874 (SFB 874) der Deutschen Forschungsgemeinschaft sowie das Emmy Noether-Programm gefördert. Der SFB 874 „Integration und Repräsentation sensorischer Prozesse“ besteht seit 2010 an der Ruhr-Universität Bochum. Die Forscherinnen und Forscher beschäftigten sich mit der Frage, wie sensorische Signale neuronale Karten generieren, und daraus komplexes Verhalten und Gedächtnisbildung resultiert.

Kontakt

Ruhr-Universität Bochum

Universitätstr. 150
44801 Bochum
Deutschland

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