Wie künstliche Intelligenz in der Krebsmedizin unterstützen soll
04.02.2022 - Künstliche Intelligenz (KI) hält zunehmend Einzug in den Alltag, auch in der Krebsmedizin. Sie soll medizinisches Personal nicht ersetzen, hat aber das Potential, bei Entscheidungen zu unterstützen und Diagnosen und Therapien zu verbessern.
Am Nationalen Centrum für Tumorerkrankungen Dresden (NCT/UCC) arbeiten Forschende gemeinsam mit Expertinnen und Experten aus der Klinik an neuen KI-basierten Anwendungen für die Krebsmedizin. Anlässlich des Weltkrebstages am 4. Februar gibt das NCT/UCC einen Einblick in die KI-Forschung am Standort.
Das Nationale Centrum für Tumorerkrankungen Dresden (NCT/UCC) ist eine gemeinsame Einrichtung des Deutschen Krebsforschungszentrums (DKFZ), des Universitätsklinikums Carl Gustav Carus Dresden, der Medizinischen Fakultät Carl Gustav Carus der TU Dresden und des Helmholtz-Zentrums Dresden-Rossendorf (HZDR).
Spracherkennung auf dem Mobiltelefon, Spam-Filter auf dem PC oder die Wahl einer möglichst staufreien Route mit dem Navigationssystem – intelligente Programme gewinnen in unserem Alltag rasant an Bedeutung. Auch in der Krebsmedizin gibt es zahlreiche mögliche Einsatzgebiete für KI-basierte Systeme: etwa bei der Diagnose von Tumorerkrankungen, der Wahl der individuell besten Therapie oder bei der chirurgischen Behandlung von Patientinnen und Patienten. Künstliche Intelligenz basiert auf der blitzschnellen Analyse riesiger Datenmengen durch Computerprogramme, die mithilfe sich selbst anpassender Algorithmen Muster und Gesetzmäßigkeiten in den Daten erkennen. Dabei kann es sich um Muster in Bildern handeln – wie bestimmte Zellen oder anatomische Strukturen – oder um Beziehungen zwischen verschiedenen Daten wie Laborbefunden und Informationen zum Behandlungsverlauf. Das Gelernte wird verallgemeinert und in Form von mathematischen Modellen abgespeichert. Nach einem gelungenen Trainingsprozess ist das Computerprogramm in der Lage, auf ähnliche neue Ereignisse adäquat zu reagieren. Die Komplexität von KI-Methoden reicht von vergleichsweise einfachen Algorithmen, die beispielsweise die Ergebnisse verschiedener Entscheidungsbäume kombinieren, bis hin zu künstlichen neuronalen Netzen, die zahlreiche mathematische Funktionen ähnlich wie Neuronen im menschlichen Gehirn miteinander verknüpfen. „Trotz aller Fortschritte in der KI-Forschung liegt die Verantwortung für medizinische Entscheidungen heute wie in Zukunft bei der behandelnden Ärztin oder dem behandelnden Arzt. Künstliche Intelligenz kann den Medizinerinnen und Medizinern lediglich wichtige Entscheidungshilfen liefern“, sagt Prof. Martin Bornhäuser, Mitglied im geschäftsführenden Direktorium des Nationalen Centrums für Tumorerkrankungen Dresden (NCT/UCC) und Direktor der Medizinischen Klinik I des Universitätsklinikums Carl Gustav Carus Dresden.
Schnellere und präzisere Krebsdiagnostik
Für die Krebsdiagnostik haben Forschende am NCT/UCC, des Dresdner Uniklinikums und der TU Dresden erstmals ein Computersystem entwickelt, das mithilfe künstlicher Intelligenz eine akute myeloische Leukämie (AML) und eine für die Therapie wichtige Mutation präzise erkennen kann. Während die herkömmliche Analyse eines Knochenmarkausstrichs unter dem Mikroskop viel Fachwissen und mehrere Stunden Zeit braucht, kann der neu entwickelte Algorithmus in weniger als zehn Sekunden entartete Zellen „enttarnen“ und die Erkrankung präzise erkennen. Demnächst soll die Diagnostik von Dresden aus als weltweiter Service angeboten werden.
Auch für den Bereich der Hautkrebs-Diagnostik gibt es vielversprechende Ansätze. So beteiligt sich das Uniklinikum Dresden als eine von deutschlandweit acht Unikliniken an einem Projekt, das ein KI-basiertes Assistenzsystem zur Erkennung von schwarzem Hautkrebs in den klinischen Alltag übertragen will. Ziel ist es, einen leistungsstarken Algorithmus, der zuvor mit gut 12.000 Bildern trainiert wurde, unter realen klinischen Bedingungen zu verbessern. Denn hier können unterschiedliche Bildaufnahmegeräte zum Einsatz kommen oder die Handhabung des Untersuchungsinstruments zwischen Ärztinnen und Ärzten variieren. Um die KI auf diese Abweichungen und ortsspezifischen Gegebenheiten vorzubereiten, werden in Dresden aktuell 100 Melanome und 100 gutartige Hautveränderungen mit Smartphone und aufgesetztem Dermatoskop fotografiert, durch Experten analysiert und durch Gewebeanalysen untersucht. Anschließend fließen die Daten in das Training des Computersystems ein. Geleitet wird das „Skin Classification Project“ (SCP2) vom Deutschen Krebsforschungszentrum.
Kurz vor der Marktreife befindet sich ein System für die Diagnostik bei Brust- und Magenkrebs, das vom Dresdner Start-up asgen gemeinsam mit dem Institut für Pathologie des Uniklinikums Dresden erprobt wird. Das System analysiert, ob ein Gen namens „HER2“ besonders aktiv ist, was ausschlaggebend für eine mögliche zielgerichtete Antikörper-Therapie ist. Das intelligente Programm erkennt Zellkerne und mit Fluoreszenzfarbstoffen markierte DNA-Abschnitte und kann deutlich schnellere und präzisere Ergebnisse liefern als eine stichprobenartige manuelle Auszählung. Trainiert wurde es in der Vergangenheit mit händisch markierten Abbildungen von über 10.000 Zellkernen. Aktuell wird es bei rund hundert Patientinnen und Patienten parallel zur Standarddiagnostik angewandt und überprüft. Künftig soll es Pathologinnen und Pathologen bei ihrer Arbeit unterstützen.
Individualisierung und Optimierung der Krebstherapie
KI kann aber nicht nur zu einer schnellen und sicheren Diagnose auf Grundlage bekannter Merkmale beitragen, sondern auch dabei helfen, neue für die Diagnose oder den Verlauf einer Erkrankung relevante Merkmale – so genannte Biomarker – zu finden. Im Rahmen einer groß angelegten Studie des Deutschen Krebskonsortiums (DKTK) arbeiten seit 2012 deutschlandweit acht Standorte unter Dresdner Leitung daran, neue Biomarker zu ermitteln und zu überprüfen, die Hinweise auf die Aggressivität von Kopf-Hals-Tumoren geben. Mithilfe verschiedener KI-Methoden identifizierten Dresdner Forschende mehrere Gene sowie Merkmale in CT-Bildern als potentielle Biomarker. Gemeinsam mit weiteren vielversprechenden Kandidaten werden diese nun überprüft. „Künftig könnten die neuen Biomarker dazu dienen, die Strahlentherapie individuell für kleine Patientengruppen anzupassen. Bei Patientinnen und Patienten mit besonders aggressiven Tumoren könnte dann beispielsweise eine erhöhte Strahlendosis zum Einsatz kommen“, erklärt Prof. Mechthild Krause, Mitglied im geschäftsführenden Direktorium des NCT/UCC und Direktorin der Klinik für Strahlentherapie und Radioonkologie des Uniklinikums Dresden.
Für die Wahl der individuell besten Therapie müssen Ärztinnen und Ärzte zahlreiche Informationen überblicken. Durch immer präzisere Diagnosen und Therapiemöglichkeiten wird die Datenlage zunehmend komplex. Dresdner Hämatologen beteiligen sich daher an der Entwicklung der KI-basierten digitalen Plattform „KAIT“, die therapierelevante Daten für verschiedene komplexe Bluterkrankungen bereitstellen und auswerten soll. In das System eingespeist werden klinische Leitlinien, Publikationen und Studien sowie Ergebnisse von mehreren tausend strukturierten klinischen Fällen aus Registerdaten. Ausgehend von individuellen Patientendaten, die die behandelnde Ärztin oder der Arzt auf der Plattform eingibt, soll künftig ein intelligenter Algorithmus wichtige Informationen filtern und gewichten. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus Dresden übernehmen bei der Entwicklung des Systems die Aufgabe, die für das Krankheitsbild der akuten myeloischen Leukämie (AML) relevanten Quellen auszuwählen und den Logarithmus zur Gewichtung der Informationen spezifisch für dieses Krankheitsbild anzupassen. Das Kooperationsprojekt wird von der Firma Janssen unterstützt, das Uniklinikum Leipzig leitet die Forschungsarbeit.
Auch während einer Krebstherapie kann KI unterstützen – zum Beispiel im Operationssaal. Intelligente Assistenzsysteme sollen etwa die genaue Lage des Tumors berechnen und die Chirurgin oder den Chirurgen durch den Eingriff navigieren. Besonders schwierig ist die Entwicklung solcher Systeme für Eingriffe an Weichgeweben, die auch während der Operation ständig in Bewegung sind. Anders als in der Orthopädie, Neurochirurgie oder HNO-Heilkunde, bieten hier vor der OP erstellte Computertomografie- oder Magnetresonanz-Bilder keine geeignete Grundlage für eine verlässliche Navigation. Für robotergestützte Operationen am Enddarm entwickeln Forschende am NCT/UCC und am Else Kröner Fresenius Zentrum (EKFZ) für Digitale Gesundheit daher ein System, das auf den Kamerabildern aus dem Bauchraum des Patienten wichtige Strukturen erkennt und in Echtzeit anzeigt. In mehr als 25.000 Einzelbildern aus Operationen haben Expertinnen und Experten händisch die optimale Schnittlinie und zu schonende Nerven eingezeichnet. Auf dieser Grundlage lernte die Software, während der bis zu acht Stunden langen Operation verschiedene Operationsphasen zu erkennen und für die Chirurgin oder den Chirurgen relevante Informationen einzublenden. „Diese Hilfestellungen sind gerade für Tumoroperationen am Enddarm von großer Relevanz, denn hier entscheiden nur wenige Millimeter darüber, ob für die Kontinenz und Potenz wichtige Nerven erhalten werden können“, erklärt Prof. Jürgen Weitz, Mitglied im geschäftsführenden Direktorium des NCT/UCC und Direktor der Klinik für Viszeral-, Thorax- und Gefäßchirurgie des Uniklinikums Dresden. Im Laufe dieses Jahres soll das neue System bei realen Operationen getestet werden.
Während und nach einer Tumoroperation im Bauchraum können schwerwiegende Komplikationen auftreten. Im Projekt „SurgOmics“ entwickeln Forschende aus Dresden und Heidelberg daher eine KI-Methode, die lebensbedrohliche Komplikationen vorhersehen soll. „Trainiert wird das System mit einer Vielzahl an präoperativen Computertomographie-Bildern, Informationen zu Vorerkrankungen von Patienten, OP-Videos aus dem Bauchraum und Angaben zu aufgetretenen Komplikationen. In Form einer App soll die Software künftig Ärztinnen und Ärzte sowie Pflegekräfte in allen Phasen der Behandlung in Echtzeit alarmieren, wenn Komplikationen zu befürchten sind“, erklärt Prof. Stefanie Speidel, Leiterin der NCT/UCC-Abteilung für Translationale Chirurgische Onkologie.
Viele KI-basierte Systeme sind so komplex, dass die Nutzerinnen und Nutzer kaum nachvollziehen können, wie die Ergebnisse erzielt werden. Gerade in der Medizin ist Transparenz aber von höchster Wichtigkeit, um Vertrauen zu schaffen und mögliche Fehler erkennen zu können. Im europäischen Forschungsprogramm OPTIMA, das klinische Daten von mehr als 200 Millionen Menschen mit Prostata-, Brust- oder Lungenkrebs in einer datenschutzkonformen Plattform zusammenführt, arbeiten Forschende vom Center for Advanced Systems Unterstanding (CASUS) am Helmholtz-Zentrum Dresden-Rossendorf daher an sogenannten erklärbaren KI-Methoden. In einem gemeinsam mit der Firma Pfizer geleiteten Arbeitsbereich entwickeln sie KI-Modelle, anhand derer Medizinerinnen und Mediziner sowie Patientenvertreterinnen und -vertreter verstehen können, wie die Software klinische Entscheidungen aus einer Vielzahl von Daten heraus unterstützen hilft.