Wohin führt die digitale Gesundheitsversorgung?
28.03.2023 - Im Mittelpunkt stehen die Chancen der Digitalisierung in Bezug auf aktuelle Herausforderungen im Gesundheitswesen.
In vielen Bereichen steckt die Digitalisierung des deutschen Gesundheitswesens noch in den Kinderschuhen. Dabei ist es eines der erklärten Ziele der Bundesregierung, entsprechende Innovationen maßgeblich voranzutreiben und zu fördern. Verschiedene Bereiche illuminieren Thesen zum Patienten der Zukunft mit Auswirkungen des allgemeinen digitalen Fortschritts auf moderne, digital-affine Patienten. Die digitale Transformation wird zukünftig auch den Umgang mit Krankheit und mit Prävention umfassend und tiefgreifend verändern. Diese Entwicklung wird maßgebend durch mittlerweile etablierte kommerzielle Anwendungsfälle befeuert. Zunehmend geht es beim Thema Gesundheit nicht nur um die Verantwortung der oder des Einzelnen, sondern um ein komplexes Wirkungsgefüge. Viele Einflüsse liegen somit außerhalb der Kontrolle des einzelnen Individuums.
Digital mit Nullen und Einsen?
Zurzeit bahnt sich in Medizin und Gesundheit ein Wendepunkt an. Die Frage ist nicht ob, sondern wie die zunehmend wahrnehmbare Konvergenz von maschinenlesbaren Gesundheitsdatensystemen (z. B. in Form der ePA), klinisch relevanter genetischer Information, KI und mobilen Sensor- und Kommunikationstechnologien unser Verständnis und unser Verhalten gegenüber Gesundheit und Krankheit transformieren werden. Schon der Versuch einer binären Unterscheidung zwischen Gesundheit und Krankheit ist nicht trivial, sind die Übergänge doch fließend. Dazu läuft ein Gesundheitssystem, das maßgeblich durch Krankenkassen finanziert wird. Der digitalen Transformation wird das Potenzial zugesprochen im aktuellen Gesundheitssystem mit seinen wechselseitigen Bedingungen die Effizienz und Effektivität der Versorgung (Produktion, Konstruktion und Organisation von Krankheit und Gesundheit) zu verbessern. Ob „Individualisierte Medizin“, „Digital Health“, „Mobile Health“, „E-Health“ oder auch „Telemedizin“, allen Ansätzen gemein ist der Wunsch, Ärzte und Patienten über räumliche und zeitliche Grenzen hinweg durch digitale Medien zu verbinden. Heute ist die Gesundheitsversorgung durchzogen von virtuellen Coachingprogrammen, Gesundheitsapps und digitalen Gesundheitsanwendungen oder smarten Wearables. Das neueste Stichwort lautet Holistic Health: Gesundheit gerät mehr und mehr in einen ganzheitlichen Zusammenhang. Die Zukunft der Gesundheit sind nicht nur medizinische Glanzleistungen und medizintechnische Innovationen, sondern auch: gesunde Städte, gesunde Arbeits- und Beziehungsformen und gesunde Denkweisen. Digitale Lösungen sollen in der Gesunderhaltung unterstützen, Krankheiten vermeiden oder therapeutisch und rehabilitativ begleiten. Leider hat die Entwicklung der digitalen Transformation in Deutschland noch nicht einmal den Status quo anderer Länder eingeholt. Es ist abzuwarten, was passiert, wenn Gesetze wie das Digitale-Versorgung-Gesetz (2019), das Patientendaten-Schutz-Gesetz (2020), das Krankenhauszukunftsgesetz (2020) und zuletzt das Digitale-Versorgung-und-Pflege-Modernisierungs-Gesetz versuchen, neue Grundlagen zu schaffen. Das vier Milliarden Euro schwere Investitionsprogramm von Bund und Ländern im Rahmen des Krankenhauszukunftsgesetzes dürfte jedoch in deutschen Krankenhäusern als Digitalisierungsbeschleuniger wirken.
KI ist die neue Valuta
Daten sind die Basis für digitale Trends. Daten wiederum entstehen in faktisch unendlicher Menge, denn bis zum Jahr 2020 wurden geschätzt 40 Zettabyte an digitalen Daten produziert. Daten aus unzähligen Sensoren und Aktoren werden durch kleinste Rechner ausgelesen, verarbeitet, über ein Netz von Datenstrecken zusammengeführt in größeren Knotenpunkten mit mehr Rechenleistung, interpretiert – und zurückgeführt. Dazwischen laufen riesige Rechenzentren, welche die großen Aufgaben übernehmen, Daten verwalten und lenken, künstliche Gehirne trainieren und komplexe wissenschaftliche Probleme lösen. Daten können beliebig häufig genutzt und mit anderen Daten kombiniert oder verglichen werden. Es ist unumstritten, dass gerade in medizinisch komplexen Situationen die Verarbeitung von Daten – hier wird heute gern von KI gesprochen – die Mediziner unterstützen kann. Ob eine P4-Medizin (präventiv, prädiktiv, partizipativ, personalisiert) oder eine 4D-Gesundheitsforschung (Drugs, Diagnostics, Devices und Data), Daten und digitale Technologien spielen in Zukunft eine entscheidende Behandlungsgrundlage. Die Verknüpfung von Daten und Algorithmen sowie die Sicherstellung von klinischer Validierung schafft „Digitale Biomarker“ als Entscheidungsgrundlage für die Gesundheitsversorgung.
Zukunft braucht die Innovation
Der typische universelle Computer, auf dem Schreibtisch oder in der Hosentasche, nutzt die Von-Neumann-Architektur, deren zentrales Kennzeichen es ist, dass es einen gemeinsamen Speicher für Befehle und Daten gibt. Durch den gemeinsamen Kanal, um dessen Bandbreite Befehle und Daten konkurrieren, entsteht jedoch ein Engpass für die Leistung des Systems, der erkennbar nur durch grundlegend neue Computing-Konzepte abgeschafft werden kann. Neben dem Quantencomputing existieren mit neuen Ideen zum neuromorphen Computing, analogen Computing und einer Reihe weiterer unkonventioneller Ansätze durchaus Gegenvorschläge, die sich jedoch meist im Forschungsstadium befinden. Doch wer finanziert die Forschung und Entwicklung neuer Computing-Konzepte? Dieses Vakuum will die Bundesagentur für Sprunginnovationen (SPRIND) mit einer „SPRIND Challenge“ zur Entwicklung und Realisierung neuer Computing-Konzepte füllen. In der ersten Phase dieses internationalen Innovationswettbewerbes werden von 14 Teams neue Computing-Konzepte entwickelt, die ab Mitte 2023 in der anschließenden zweiten Phase mittels entsprechender Hardware implementiert werden sollen. Hohe Risiken in der Entwicklung bedeutsamer neuer Technologien einzugehen ist der Auftrag der Bundesregierung an SPRIND.
Digitale Gesundheit verändert
Als Individuum können wir im Zusammenspiel mit dem Gesundheitswesen verschiedene Rollen einnehmen. Es gibt aber Trendbestimmung in der neuronalen Entwicklung: Die omnipräsente Internet- und Smartphone-Nutzung fordert ein tieferes Verständnis für die Online-offline-Überschneidungen ein. Am Ende eines jeden Tages entsperrt ein durchschnittlicher Nutzer ca. 120-mal sein Smartphone. Junge Menschen haben bis zum Abend knapp 300 Nachrichten und Informationen gelesen oder versendet. Dazwischen müssen unzählige Werbebotschaften überflogen und gefiltert werden. Durchschnittlich haben sie also 4000- bis 5000-mal das Smartphone angefasst. Aus der Hirnforschung und Neurologie wissen wir, dass oft ausgeführte Tätigkeiten Spuren im Gehirn hinterlasse, vor allem in besonders beanspruchten Regionen. Wissenschaftler konnten feststellen, dass durch die häufige Smartphone-Nutzung der motorische Kortex des Gehirns verändert wurde. Die tägliche massive Nutzung von Social Media hinterlässt ebenfalls ihre Spuren im Gehirn. Diese Veränderungen haben Vorteile für die Cyberwelt. Man reagiert schneller und kann geschickter mit digitalen Anwendungen umgehen. Für die analoge Welt haben diese Änderungen jedoch keine bekannten Vorteile. Sie wird immer weiter zurückgedrängt. Bleibt der Nutzer dort verhaftet, wird er auch immer weniger vom Homo interneticus wahrgenommen. Signifikante Unterschiede gibt es zwischen dem älteren Homo analogus und dem jüngeren Homo interneticus: Junge Menschen achten im Internet z. B. viel mehr auf Authentizität, erkennen Fake News schneller und akzeptieren die intuitiven Steuerungen früher. Auch wenn DiGA und DiPA nicht zwingend die Mobilität der Anwendung voraussetzen, so zeigt sich ein klarer Trend, wie schon durch die „Quantified-Self-Bewegung“ vor zehn Jahren gefordert wurde: Digitale Gesundheitsdienstleistungen auf der Basis von KI und virtuelle Assistenten werden bald eine große Rolle für die Fähigkeit von Patienten spielen. Aktuelle Fortschritte liefern neue digitale „Werkzeuge“ für die Transformation zum vernetzten Gesundheitsmanagement mündiger Bürger und Patienten.
Autor: Hans-Otto von Wietersheim, Bretten