Zielführender Einsatz von Antibiotika?
01.01.2024
- Der rationale Einsatz von Antibiotika kann die Probleme der Resistenzentwicklung abwehren und zu einer verbesserten Patientensicherheit führen.
Die deutsch-österreichische S3-Leitlinie der AWMF (gültig bis 30.01.2024), die unter der Federführung der Deutschen Gesellschaft für Infektiologie zusammen mit Infektiologen, Mikrobiologen, Krankenhaushygienikern und Apothekern der jeweiligen Fachgesellschaften und Verbände erstellt wurde, hat zum Ziel, Ärzte in Krankenhäusern beim sachgemäßen Umgang mit Antibiotika zu unterstützen. Mit ABS Antibiotic Stewardship (antibiotic = Antibiotikum; stewardship = Verantwortung) ist ein programmatisches, nachhaltiges Bemühen einer medizinischen Institution um Verbesserung und Sicherstellung einer rationalen antiinfektiven Verordnungspraxis gemeint.
Darunter werden Strategien bzw. Maßnahmen verstanden, die die Qualität der Behandlung mit Antibiotika, aber auch anderen Antiinfektiva bezüglich Indikation, Substanzwahl, Dosierung, Applikation und Anwendungsdauer sichern, um das beste klinische Behandlungsergebnis unter Beachtung einer minimalen Toxizität für den Patienten und einer Resistenzminimierung zu erreichen. ABS-Programme, die mehrere ABS-Maßnahmen bündeln, haben einen günstigen Einfluss auf Resistenz-, Kosten- und Verbrauchsentwicklung. Solche Anstrengungen sind enorm wichtig, denn Fakten und Zahlen sprechen eine deutliche Sprache. Gegenwärtig sterben in Europa mindestens 33.000 Menschen jährlich an Infektionen durch multiresistente Erreger, weil die Medikamente nicht mehr wirken. Ohne Forschung, so die Wissenschaftler, wäre man möglicherweise bis 2050 bei einer Zahl von zehn Millionen Toten, mehr als durch Krebserkrankungen (8,2 Mio.). Auch die ökonomischen Schäden wären folgenschwer.
Multiresistente Erreger breiten sich weltweit aus und könnten schon in der nahen Zukunft die sichere Behandlung von tödlichen Infektionskrankheiten bedrohen. Der dringenden Nachfrage an neuen antimikrobiellen Wirkstoffen steht jedoch ein auffallender Mangel an Investitionen in ihrer Erforschung gegenüber. Die internationale Forschungsallianz IRAADD stellt Strategien vor, mittels derer das Problem gelöst werden könnte. Wissenschaftler des Deutschen Zentrums für Infektionsforschung (DZIF) sind federführend beteiligt. „Bakterien, die gegen mehrere Medikamente resistent sind, können zu einer ebenso großen Bedrohung werden wie die aktuelle Corona-Pandemie, wenn nicht rechtzeitig gegengesteuert wird“, erklärt Prof. Dr. Rolf Müller, Direktor des Helmholtz-Instituts für Pharmazeutische Forschung Saarland (HIPS), einem Standort des Helmholtz-Zentrums für Infektionsforschung, und DZIF-Koordinator für neue Antibiotika.
Während derzeit fast 4000 Krebsmedikamente in der Entwicklung sind, befinden sich gegenwärtig nur 30 bis 40 neue antimikrobielle Wirkstoffe in der klinischen Prüfung. Weniger als ein Viertel dieser Medikamente in der Entwicklungspipeline stellen eine neue Klasse von Wirkstoffen dar oder weisen neue Mechanismen auf“, betont Müller. Und keiner dieser Wirkstoffkandidaten sei gegen die von der WHO als prioritär eingestuften Erreger wirksam. Mit der Zunahme von Antibiotikaresistenzen wird der Ruf nach einer rationalen Antiinfektivaverordnung (Antibiotic Stewardship) lauter.
Taktik für neue Substanzen
Ein Mikroorganismus wird als „suszeptibel, Standard-Dosierungsschema“ eingestuft, wenn die Wahrscheinlichkeit eines therapeutischen Erfolgs unter Verwendung eines Standard-Dosierungsschemas des Wirkstoffs hoch ist. Ein Mikroorganismus wird als „anfällige, erhöhte Exposition“ eingestuft, wenn die Wahrscheinlichkeit eines therapeutischen Erfolgs aufgrund einer Steigerung der Exposition gegenüber dem Wirkstoff durch Anpassung des Dosierungsschemas oder seiner Konzentration an der Infektionsstelle erhöht wird. Ein Mikroorganismus wird als „resistent“ eingestuft, wenn die Wahrscheinlichkeit eines therapeutischen Versagens hoch ist, selbst wenn die Exposition erhöht ist.
Auch Antibiotika-Toleranz kann die Entwicklung von Resistenzen fördern, selbst unter Kombinationstherapien, die weit verbreitet sind, um solche Resistenzen zu verhindern. Die internationale Allianz schlägt in ihrem Positionspapier sowohl kurzfristige als auch langfristige Lösungswege vor, um das Problem der Resistenzen nachhaltig anzugehen und die Pipeline zu füllen. Dabei sollen die Kräfte aus dem öffentlichen, dem akademischen und dem industriellen Sektor gebündelt werden. Drei große Themen werden im Positionspapier dargestellt: die Entdeckung von neuen Wirkstoffen auf der Basis von synthetischen, niedermolekularen Substanzen und ihre Optimierung bis hin zu klinischen Studien; als Zweites die Entwicklung von neuen Wirkstoffen auf Basis von Naturstoffen, deren Erfolg insbesondere von neuen innovativen Verfahren abhängen wird, und drittens die möglichen Hemmnisse und die Optimierungsmöglichkeiten vom Wirkstoffkandidaten zum Medikament.
Evolution schläfrig und schwach
Bei vielen Infektionskrankheiten kann man in der Alltagspraxis nicht unterscheiden zwischen bakteriellen oder viralen Infekten. Am Beispiel eines grippalen Infektes sind in vielleicht 90 % Viren ursächlich, gegen die Antibiotika wirkungslos sind. Trotzdem werden in Arztpraxen bei grippalen Infekten oft Antibiotika verschrieben, weil Ärzte befürchten, es könnte sich um die wenigen Ausnahmen einer bakteriellen Ursache handeln, oder der Patient könnte eine bakterielle Lungenentzündung entwickeln. Immerhin wird seit 50 Jahren darüber diskutiert, dass ein nennenswerter Teil der Antibiotikagaben unnötig oder ungezielt sei, und dies ein Hauptfaktor für die zunehmenden Resistenzen sei.
Um diese negative Entwicklung zu verlangsamen oder sogar umzukehren, wurden in der Humanmedizin eine Reihe von Maßnahmen entwickelt und umgesetzt, die im englischen Sprachraum als „antimicrobial stewardship“ oder als „antibiotic stewardship“ bezeichnet werden. Diese an sich synonymen Begriffe benennen prinzipiell zwei Seiten einer Medaille: einerseits das Resistenzproblem, und andererseits den hierfür verantwortlichen Antibiotikaeinsatz. Die Entwicklung neuer Antibiotika sei laut WHO viel zu langsam. Rückläufige Investitionen und mangelnde Innovation bei der Entwicklung neuer Wirkstoffe untergraben die Bemühungen zur Bekämpfung multiresistenter Infektionen, heißt es in einer Meldung.
Insbesondere gramnegative Bakterien wie Acinetobacter baumannii, Pseudomonas aeruginosa und Enterobacteriaceae stellen eine wachsende Gefahr für die menschliche Gesundheit dar. Die Berichte weisen laut WHO auf eine besorgniserregende Lücke in der Aktivität gegen das hochresistente Carbapenem-spaltende Enzym NDM-1 (New Delhi Metallo-beta-Lactamase 1) hin. NDM-1 macht Bakterien gegen eine breite Palette von Antibiotika resistent, darunter auch gegen solche aus der Carbapenem-Familie, die heute die letzte Therapiemöglichkeit gegen antibiotikaresistente bakterielle Infektionen darstellen.
Die Behandlung von Infektionen wird durch die in vielen Bereichen rasant fortschreitende Resistenzentwicklung bakterieller Infektionserreger zunehmend erschwert. Ein rationaler Einsatz von Antibiotika ist dringender denn je, um die Segnungen dieser Medikamente auch noch für kommende Generationen zu erhalten.
Sehr anspruchsvoll vor dem Hintergrund, dass die infektiologischen Herausforderungen durch eine immer komplexer werdende Medizin mit ihren immer moderneren Behandlungsmethoden, den immer älter werdenden Patienten, den neuen invasiven und immunsuppressiven Verfahren, Organtransplantationen und dem Einsatz hochkomplexer medizinischer Fremdkörper (Gefäßprothesen, Gelenkersatz) ungebremst verschärfen und dabei immer häufiger in schwer behandelbare, infektiologische Kollateralschäden münden. Selbstverständlich können Argumente nicht pauschalisiert werden. Bei der Resistenzentwicklung gegenüber Antibiotika treten zahlreiche weitere Faktoren auf, u.a. der übermäßige Gebrauch, insbesondere in der Landwirtschaft, und auch die Umweltstabilität eines Antibiotikums gehören dazu. Die Maßnahmen umfassen naturgemäß ein breites Spektrum an Interdisziplinarität. Neben den einzelnen Fachdisziplinen der Humanmedizin sowie der Veterinärmedizin und ihren Vertretern ist stets auch die Mikrobiologie eingebunden, da sie beim individuellen Patienten Informationen zu Erregern und deren ggf. vorhandenen Resistenzen liefert.
Die auch von vielen Medizinern immer wieder geäußerte Sorge, dass durch den reglementierten Einsatz von Antiinfektiva die Behandlungsqualität der Patienten leiden könnte, ist inzwischen durch renommierte internationale Studien völlig widerlegt. Im Gegenteil: Der ABS-kontrollierte, optimierte Einsatz von Antiinfektiva führt bei der Behandlung von Krankenhausinfektionen zu einem besseren Outcome der Patienten, zur Verkürzung der Liegedauer und zu erhebliche Einsparung von Kosten.
Autor: Hans-Otto von Wietersheim, Bretten