Bungee-Jumping für die Wissenschaft
26.02.2019 -
Ein Bereitschaftspotential konnte erstmals außerhalb des Labors nachgewiesen werden.
Wenn eine Person bei einem Bungee-Jump kurz vor dem Entschluss steht, von der Brücke herunterzuspringen, lässt sich fast eine Sekunde vor der bewussten Entscheidung zu dem Sprung eine hohe Hirnaktivität messen. Dieses Bereitschaftspotential konnten Wissenschaftler der Charité – Universitätsmedizin Berlin erstmals außerhalb des Labors und unter Extrembedingungen nachweisen. Die Erkenntnisse helfen unter anderem dabei, Gehirn-Computer-Schnittstellen weiterzuentwickeln. Diese unterstützen beispielsweise Querschnittsgelähmte, die mithilfe von Neuroprothesen ihre Hände wieder bewegen können.
Bewegungsbezogene Hirnaktivität
Was passiert im Gehirn eines Menschen, der kurz davor ist, von einer 192 Meter hohen Brücke an einem Bungee-Seil herunterzuspringen? Dieser Frage ist das Team um Prof. Dr. Surjo Soekadar von der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Charité in einem spektakulären Experiment nachgegangen. Die Forscher ließen zwei Probanden insgesamt 30 Mal von der 192 Meter hohen Europabrücke bei Innsbruck springen und nahmen dabei deren Hirnströme auf. So konnten sie in einer realen Umgebung nachweisen, dass bewegungsbezogene Hirnaktivität auch in Situationen zuverlässig gemessen werden kann, in denen starke Emotionen eine Rolle spielen – in dem Fall die Aufregung bei einem solchen Sprung. Damit haben sie das Bereitschaftspotential zum ersten Mal außerhalb des Labors belegt und gezeigt, wie sich extreme Gefühlszustände darauf auswirken.
Das Bereitschaftspotential ist eine elektrische Spannungsverschiebung im Gehirn, die über die menschliche Kopfhaut mittels Elektroenzephalographie (EEG) gemessen wird. Es zeigt eine bevorstehende willentliche Handlung – zum Beispiel eine Handbewegung – an und entsteht, noch bevor sich die handelnde Person bewusst wird, dass sie gleich diese Bewegung ausführen wird. Das Phänomen wurde 1964 von Lüder Deecke und Hans-Helmut Kornhuber entdeckt, als beide unter strengen Laborbedingungen die Hirnströme von Probanden bei Fingerbewegungen in hunderten Versuchsdurchläufen maßen.
Alltagstaugliche Gehirn-Computer-Schnittstelle
„Die Messung dieser elektrischen Potentiale ist bereits im Labor extrem sensibel, da die Spannungsverschiebung nur wenige Millionstel Volt beträgt. Doch um alltagstaugliche Gehirn-Computer-Schnittstellen zu entwickeln, wollten wir untersuchen, ob das Bereitschaftspotential auch unter realen Umständen aufzuzeichnen ist“, berichtet Prof. Soekadar. Das konnten die Wissenschaftler mit ihrem Experiment bereits nach wenigen Sprüngen beweisen. Zudem fanden sie heraus, dass sich die Hirnaktivität bei den Sprüngen aus 192 Metern Höhe nicht von der Hirnaktivität bei Sprüngen aus nur 1 Meter Höhe unterscheidet. Die zwei Probanden sprangen ebenfalls insgesamt 30 Mal aus 1 Meter Höhe. Dieses Ergebnis bedeutet, dass die Angst vor einer vermeintlich lebensgefährlichen Handlung keinen Einfluss auf die Ausprägung des Bereitschaftspotentials hat.
Übersetzung von Hirnaktivität in Steuersignale
Die Studie schafft eine wichtige Grundlage für die Weiterentwicklung von Gehirn-Computer-Schnittstellen. Solche übersetzen Hirnaktivität in Steuersignale von Robotern oder anderen technischen Geräten. Sie ermöglichen zum Beispiel Querschnittsgelähmten, wieder selbstständig zu essen. Hierbei führt die Hirnaktivität, die bei dem Gedanken an eine Greifbewegung entsteht, zu einer tatsächlichen Greifbewegung einer elektromechanischen Stützstruktur, die an der gelähmten Hand befestigt ist. Im Alltag ist es sehr wichtig, dass auch starke Gefühle die Steuerung solcher Neuroprothesen nicht beeinträchtigen. „Unsere Ergebnisse deuten darauf hin, dass wir Gehirn-Computer-Schnittstellen auch unter extremer emotionaler Anspannung zuverlässig einsetzen können“, erklärt Prof. Soekadar. Er und sein Team werden dieses Wissen nun in eine Studie einfließen lassen, bei der Querschnittsgelähmte und Schlaganfallpatienten solche Stützstrukturen verwenden sollen.
Zur Studie
Prof. Dr. Surjo Soekadar ist seit November 2018 Einstein-Professor für Klinische Neurotechnologie an der Charité. Die vorliegende Untersuchung hat er Anfang 2018 in seiner Funktion als Leiter der Arbeitsgruppe „Angewandte Neurotechnologie“ an der Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie in Tübingen durchgeführt.
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