Medizin & Technik

Bandscheibenvorfall – mit Augenmaß in die Zukunft

20.02.2012 -

Wirbelsäulenschmerzen ohne Nervenwurzel-Beschwerden sind häufig und werden meist gut durch nicht-operative Verfahren behandelt. Eine Beeinträchtigung der Nervenfunktion braucht eine neurologische Befunderhebung und Bildgebung, ggf. eine operative Behandlung.

Neue Konzepte der Miniaturisierung des operativen Zugangs haben noch nicht den vollen Durchbruch bei allen Facetten der Erkrankung geschafft. Aber eine schnellere Mobilisation und eine Verringerung des Rückenschmerzes nach Operation sind schon erreicht worden.

Statistisch kann man ihm kaum entrinnen, dennoch ist er klinisch seltener problematisch als angenommen: der Bandscheibenvorfall. Wie das?

Mit dem Begriff Bandscheibenvorfall wird einerseits Rückenschmerz assoziiert, andererseits Lähmung und Risiko einer Behinderung. Man muss daher klar unterscheiden zwischen Abnutzungen an der Wirbelsäule (Gelenkverdickungen, Verdickungen des Bandapparates, Substanzverlust an der Bandscheibe ohne Zerreißung der Bandscheibenkapsel) mit Rückenschmerz (aber ohne Nervenkompression) und Veränderungen, die die Nervenwurzeln oder das Rückenmark bedrängen.

Abnutzungen an der Wirbelsäule sind sehr häufig, meist aber ohne relevante Beschwerden. Sie werden bei der radiologischen Bildgebung (Kernspintomografie, Computertomografie) per Zufall entdeckt. Ein solcher Befund allein ist nicht aussagekräftig ohne dazu passende Beschwerden (Schmerz) und Funktionseinschränkungen (Taubheitsgefühl, Lähmungserscheinung u. a.). Diese Abnutzungen als Zufallsbefunde betreffen z.B. ca. 60% aller Menschen im Alter über 40 Jahre an der Halswirbelsäule, ohne dass Beschwerden vorliegen.

Bandscheibenvorfälle an der Halswirbelsäule sind bereits sechsmal seltener bei diesen gesunden Menschen. Im Bereich der Lendenwirbelsäule findet man Bandscheibenabnutzungen in über 85% gesunder Menschen im Alter über 50 Jahre bei feingeweblichen Untersuchungen durch Autopsien.

Bandscheibenvorfälle (d.h. Veränderungen mit Zerreißung der Bandscheibenkapsel) mit Beschwerden durch Druck auf Nerven betreffen weit überwiegend die Lendenwirbelsäule, seltener die Hals- und sehr selten die Brustwirbelsäule.

Für die Lendenwirbelsäule gilt, dass knapp jeder zweite Mensch im Leben relevante Rückenschmerzen hat, allerdings nur jeder zwanzigste einen Bandscheibenvorfall. Und das Risiko, dass bei reinen Rückenschmerzen ein Bandscheibenvorfall die Ursache ist, ist mit ca. 3%-5% ebenfalls niedrig. Bei der ärztlichen Diagnostik und Beratung gilt es daher zunächst, eine Risiko-Nutzen-Abwägung im Sinne des Patienten vorzunehmen:

Im Fall fehlender oder geringer Reizungen der Nervenwurzeln ist die konsequente Behandlung des Schmerzes, die Beratung und Beruhigung des Patienten und der Erhalt der Mobilität und sozialen Einsatzfähigkeit erforderlich. Dies betrifft die allermeisten Patienten (70%-90%), und bei günstigem Verlauf dieser konservativen, nicht-operativen Behandlung ist die Chance der nachhaltigen Beschwerdebesserung oder -freiheit sehr gut.

Im Fall deutlicher Zeichen einer Kompression des Rückenmarks oder von Nervenwurzeln muss eine Bildgebung erfolgen, um die Ursache (meist ein Bandscheibenvorfall) und deren Ausmaß zu identifizieren. Bei der Dringlichkeit der Abklärung sind der Schweregrad, die Akuizität des Auftretens und die Dauer einer Funktionsstörung (insbesondere Lähmungen, Störung der Blasen- oder Mastdarmfunktion) sehr wichtig. Insbesondere akute Rückenmark-Funktionsstörungen, schwere Lähmungen und Störungen der Blasen-/Mastdarmfunktion stellen eine Notfallindikation zur Bildgebung und ggf. auch operativen Behandlung dar.

Obwohl die meisten Bandscheibenvorfälle an der Lendenwirbelsäule ohne Operation gut behandelt werden können, bestehen fundierte Indikationen zu einer Operation: Lähmung bei Nervenwurzelkompression, aber auch anhaltender Nervenwurzelschmerz ohne nachhaltige Besserung nach konsequenter konservativer Behandlung, um eine Schmerz-Chronifizierung zu vermeiden. Neben einem andauernden Schmerz besteht dann auch ein erhöhtes Risiko einer länger dauernden Arbeitsunfähigkeit, was die Aussichten auf Heilung zusätzlich schmälert.

Alle operativen Methoden verfolgen das Ziel, den Bandscheibenvorfall möglichst vollständig und für das umgebende Gewebe möglichst schonend zu entfernen. Die am weitesten verbreitete Methode ist die offene, mikrochirurgische Operation über einen ca. 2 cm langen Hautschnitt. Die Erfolgsrate liegt im Mittel bei 80% (bis 95%). Das Risiko eines erneuten Bandscheibenvorfalles trotz Operation der betroffenen Bandscheibe liegt zwischen 3-15%, z.T. abhängig von der Operationstechnik. Komplikationen sind mit insgesamt 7-8% relativ selten (neue Lähmung in unter 1%, Infektion in ca. 1-3% u. a.).

Aktuelle Entwicklungen der OP-Techniken versuchen, die Narbenbildung nahe der betroffenen Nervenwurzel und in der Rückenmuskulatur (quasi auf dem Weg zum Nerven) zu reduzieren, um die Erfolgsrate weiter zu verbessern. Hierbei haben transmuskuläre OP-Techniken derzeit noch keinen eindeutigen Vorteil gegenüber der Standard-OP-Technik zeigen können. Rein endoskopische OP-Techniken weisen eine geringere Häufigkeit vor­übergehender Rückenbeschwerden, die durch den operativen Weg zur Wirbelsäule entstehen können, auf. Daher wird diese Technik derzeit als so schonend angesehen, dass sie z.T. niederschwelliger empfohlen wird als der mikrochirurgische Standard. Allerdings sind die Erfolgsraten der Schmerzfreiheit im Bereich des Beines und die Komplikationsraten mit der mikrochirurgischen OP-Technik vergleichbar.

Ein Ansatz, die Rate an erneuten Bandscheibenvorfällen der operierten Bandscheibe zu reduzieren, ist die Implantation eines Verschlusssystems für die breit gerissene oder eröffnete Bandscheibenkapsel. Diese Technik wird derzeit im Rahmen einer Phase-III-Multi-Center-Studie in Deutschland untersucht. Ansätze, die Alterungsprozesse der Bandscheibe biotechnologisch durch vor Ort applizierte Zellen aufzuhalten oder umzukehren, werden ebenfalls klinisch angewandt bei noch unklarer Datenlage zu längerfristigen klinischen Ergebnissen und zur Kosten-Nutzen-Relation.

Man sollte also im wahrsten Sinne des Wortes entspannt (und mobil) bleiben. Nicht jede technische Möglichkeit ist automatisch sinnvoll und besser als der Standard. Es ist Aufgabe der Forschung und der klinisch tätigen Ärzte, für technische Neuerungen offen zu sein, diese aber vor einer breiten Einführung klinisch-wissenschaftlich gut zu untersuchen, wie dies für Medikamente Standard ist. Dies erfordert aber auch den aufgeklärten und kritischen Patienten, der sich fragen muss, ob es wirklich sein kann, dass jede Woche in einem Boulevardblatt nun endgültig die „Heilung für den Rücken" mittels einer brandneuen Technologie gefunden wird. Entscheidend ist letztlich ein vertrauensvolles Arzt-Patienten-Verhältnis und Augenmaß in der Wahl der Behandlungsmethode.

 

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