Unterschätzte Krankheit: Sepsis
16.12.2014 -
Mit 60.000 Toten pro Jahr ist die Sepsis die dritthäufigste Todesursache in Deutschland. Angesichts unterschiedlicher Ursachen und häufig unspezifischer Symptome ist die Diagnostik und Therapie schwierig. Der Intensivmediziner und führende deutsche Sepsisforscher Prof. Dr. Konrad Reinhart erläutert die Hintergründe.
M&K: Welche Ursachen liegen der Sepsis zugrunde?
Prof. Dr. Konrad Reinhart: Eine Sepsis wird immer durch eine Infektion ausgelöst. Nahezu jede akute Infektion und eine Vielzahl von Infektionserregern - Bakterien, Viren, Pilze und auch Protozoen wie Malaria - können eine Sepsis auslösen. Auch Ebola, um ein ganz aktuelles Beispiel zu nennen, oder auch das Grippevirus kann zu Sepsis, Multiorganversagen und septischem Schock führen. Die häufigsten Ursachen sind Lungenentzündung, abdominelle Infektionen, Infekte des Urogenitaltraktes und Wundinfektionen. Es ist wichtig zu wissen, dass sich 30-40 % der Sepsisfälle außerhalb des Krankenhauses entwickeln.
Welche diagnostischen Maßnahmen stehen für die Feststellung der Sepsis bisher zur Verfügung und für welche Fragestellungen wünschen Sie sich noch industrielle Innovationen?
Prof. Dr. Konrad Reinhart: Der Verdacht auf eine Sepsis muss beim Auftreten von klinischen Zeichen wie hohem Fieber, Schüttelfrost, schwerem Krankheitsgefühl, Verwirrtheit, Atemnot, Blutdruckabfall und erhöhter Herzfrequenz gestellt werden. Je mehr dieser Symptome vorliegen umso wahrscheinlicher ist die Diagnose. Zur Sicherung der Diagnose dienen laborchemische Bestimmungen des Blutbildes mit der Frage nach Leukozytenzahl, Zeichen der Linksverschiebung und Bestimmung der Thrombozytenzahl. Diese Laborwerte können jedoch auch bei nicht infektiösen Erkrankungen pathologisch verändert sein. Der Parameter mit der größten Spezifität und Sensitivität zum Vorliegen einer Infektion/Sepsis ist derzeit Procalcitonin. Die Bestimmung von Serumlaktat gibt Aufschluss darüber, inwieweit die Sepsis bereits zu einer Beeinträchtigung des kardiovaskulären Systems bzw. der zellulären Sauerstoffversorgung geführt hat, und sollte deshalb bei jedem Verdacht auf Sepsis erfolgen.
Dringend benötigt werden Diagnostika, die eine sichere Differenzierung von infektiös und nicht infektiös ausgelösten systemischen Inflammationsreaktionen mit Organversagen ermöglichen. Das Gleiche gilt für Verfahren, die eine schnelle Information über den die Sepsis auslösenden Erreger und seine Empfindlichkeit gegenüber antimikobiellen Substanzen ermöglichen.
Welche Bedeutung kommt der Sepsis-Aufklärung und der Schulung über diese Infektionskrankheit beim medizinischen Personal zu? Gibt es hierzu belastbare Zahlen?
Prof. Dr. Konrad Reinhart: Die Früherkennung und Frühbehandlung einer Sepsis ist von ganz zentraler Bedeutung. Es ist inzwischen durch zahlreiche hochrangig publizierte Studien belegt, dass eine adäquate Behandlung der Sepsis, d. h. innerhalb der ersten 1-3 Stunden nach Auftreten der ersten Zeichen einer septisch bedingten Organfunktionsstörung, die Überlebenschancen um bis zu 50 % verbessert. Deshalb ist die Schulung des medizinischen Personals zur Früherkennung einer Sepsis im ambulanten Bereich, in der prästationären Notfallmedizin, in den Notaufnahmen und allen anderen Bereichen des Krankenhauses von größter Bedeutung.
Welche Unsicherheiten bestehen bei der Sepsistherapie und welche präventiven Faktoren führen nachweislich zu einer sinkenden Zahl von Sepsisfällen?
Prof. Dr. Konrad Reinhart: Oft werden die Frühzeichen einer Sepsis nicht richtig gedeutet und die notwendigen diagnostischen Schritte zur Identifizierung des Infektionsherdes bzw. des Infektionserregers nicht eingeleitet. Dies verzögert die Therapie und erhöht die Sterblichkeit. Bei gewissen Infektionen z. B. im abdominellen oder urogenitalen Bereich ist neben der antibiotischen Therapie auch eine operative oder interventionelle Sanierung erforderlich, deren Durchführung ebenfalls zeitkritisch ist. Manchmal gelingt es nicht, die Infektionsursache zu identifizieren, und es besteht Unsicherheit darüber, welche antimikrobielle Substanzen wirksam sind. Bei viraler Sepsis wie Influenza oder Ebola fehlen derzeit sicher wirksame antivirale Substanzen, und die Zahl multiresistenter bakterieller Erreger hat in den letzten Jahrzehnten dramatisch zugenommen.
Welches sind die wichtigsten Faktoren, die im allgemeinen Krankenhausalltag umgesetzt werden müssen, um Sepsisfälle erfolgreich zu verhindern?
Prof. Dr. Konrad Reinhart: Die wichtigste Maßnahme hierzu ist sicherlich die Beachtung der Hygieneregeln, dies gilt insbesondere für die Händehygiene und die Beachtung der Sterilitätsvorgaben bei der Durchführung von invasiven Maßnahmen, wie dem Anlegen von intravasalen Kathetern und operativen Eingriffen, sowie Maßnahmen zum Screening hinsichtlich des Vorliegens von multi-resistenten Erregern.
Prof. Reinhart, Sie machen sich für einen nationalen Sepsis-Aktionsplan stark. Was sind die Kernpunkte dieses Plans und was ist für eine flächendeckende Umsetzung nötig?
Prof. Dr. Konrad Reinhart: Zunächst zu den Gründen, warum in einem Memorandum, das sich an die Politik und hier insbesondere an den Bundesgesundheitsminister richtet, ein Nationaler Aktionsplan gegen Sepsis gefordert wird:
- Weil die Menschen in Deutschland nicht wissen, dass jährlich durch Impfungen mindestens 10.000 Sepsistodesfälle verhindert werden könnten.
- Weil durch die strikte Einhaltung von Hygienemaßnahmen in deutschen Krankenhäusern jährlich 1.500-4.500 Sepsistodesfälle vermeidbar sind.
- Weil durch Früherkennung und die Behandlung einer Sepsis als Notfall jährlich ca. 8.000-10.000 Patienten mehr überleben könnten.
- Weil in Deutschland ca. 3.000 Todesfälle wegen multiresistenter Keime zu beklagen sind.
- Weil es in den meisten deutschen Krankenhäusern keine Sepsis-spezifischen Qualitätsverbesserungsprogramme gibt.
- Weil in Deutschland flächendeckende Sepsisregister fehlen.
- Weil für manche Infektionserreger Erreger wirksame Wirkstoffe völlig fehlen.
- Weil es in Deutschland zu wenige Infektiologen, Hygieneärzte und Hygieneschwestern gibt.
- Weil Studenten, Ärzte und Pflegepersonal nicht systematisch über die Frühsymptome von Infektionen und Sepsis unterrichtet werden.
- Weil Laien die Frühsymptome einer Sepsis nicht kennen.
- Weil durch den nicht rationalen Einsatz von Antibiotika in der Humanmedizin und Tierzucht Antibiotikaresistenzen gefördert werden.
- Weil es keine auf die Nachbehandlung der Sepsisfolgen spezialisierten stationären und ambulanten Reha-Einrichtungen gibt.
Das Memorandum wird u. a. von 12 medizinischen Fachgesellschaften, den Präsidenten der Leopoldina und des Robert Koch-Instituts, einer Reihe von Landesgesundheitsministern und Landesärztekammern und einigen großen Krankenhausgruppen unterstützt.
Um das realistische Ziel zu erreichen, die Zahl der Sepsis-bedingten Todesfälle in Deutschland jährlich um 15.000-20.000 zu verringern, bedarf es einer konzertierten Aktion aller Akteure des Gesundheitswesens, die Einbeziehung der Öffentlichkeit und verstärkte Forschungsanstrengungen zur Entwicklung effektiver anti-mikrobieller Substanzen und schneller diagnostischer Tests seitens der Wissenschaft und der Industrie.
Das Memorandum fordert das Bundesgesundheitsministerium auf, alle Stakeholder an einen Tisch zu bringen und die Erarbeitung dieses Planes zu koordinieren und voranzutreiben. So kann die breit vorhandene Expertise am effektivsten und unter Vermeidung von Ressortdenken und Überwindung von Gruppeninteressen in einem interdisziplinären, transsektoralen Projekt zusammengebracht werden.
Folgende Kernforderungen gilt es flächendeckend umzusetzen und begleitend den Grad ihrer Umsetzung zeitnah öffentlich zu machen.
- Entwicklung und Implementierung von Qualitätssicherungsprogrammen zur Verbesserung der Prävention,
- Diagnose und Therapie von Infektionen und Sepsis in allen Sektoren des Gesundheitswesens.
- Aufklärung der Bevölkerung über Präventionsmöglichkeiten und Frühsymptome.
- Stopp des unsachgemäßen Einsatzes von Antibiotika in der Medizin, Landwirtschaft und Tierzucht.
- Entwurf neuer Modelle zur Förderung der Entwicklung effektiver anti-mikrobieller Wirkstoffe.
- Weiterentwicklung der Konzepte zum Umgang mit Pandemien, der grenzüberschreitenden und nationalen Ausbreitung von multiresistenten Erregern.
Zur Person
Prof. Dr. Konrad Reinhart studierte an der Ludwig-Maximilians-Universität in München und der Freien Universität Berlin Humanmedizin. An der Freien Universität Berlin wurde er promoviert und habilitiert. 1993 erhielt er einen Ruf an das Universitätsklinikum der Friedrich-Schiller-Universität Jena als Direktor der Klinik für Anästhesiologie und Intensivmedizin. Seit 2010 ist er Chairman der Global Sepsis Alliance (GSA) und seit 2011 Mitglied der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina.