Impulse einer Reise
Abstract zur Masterarbeit von Katharina Hollberg und Anton Leibham
Mit der Erkenntnis, sich in einem halben Jahrzehnt des Architekturstudiums nie ausgiebig mit Wohnungsbau, seinen Bewohnerinnen und Bewohnern sowie ihren heutigen Bedürfnissen auseinandergesetzt zu haben, entstand die Idee einer Reise durch Europa, um gefestigte Gedankenstrukturen zu hinterfragen und neue Eindrücke aus dem mitteleuropäischen Kulturkreis zu sammeln. Fünf Wochen, zehn Städte, sieben Länder, weit über 5.000 Kilometer Zugstrecke und 500 Kilometer Fußweg brachten uns zu über 250 altbewährten, gründerzeitlichen, modernen aber auch zeitgenössischen Wohnungsbauprojekten.
In der industriellen und postindustriellen Gesellschaft zwang die Wohnungsnot, insbesondere in den Nachkriegsjahren, die Architektur den Weg des Massenwohnungsbaus einzuschlagen, der auch heute noch viele Städte prägt. Technische Neuerungen in der Moderne ermöglichten es, zugleich schnell und einfach monofunktionale Bauwerke zu errichten, die explizit auf die Wohnbedürfnisse der damaligen Gesellschaft zugeschnitten waren. Entsprechend diesem Verständnis wurde Wohnraum geschaffen, der heute nicht mehr zeitgemäß ist, da die Gesellschaft aufgrund von zahlreichen demographischen, sozialen und technischen Entwicklungen in anderen Verhältnissen lebt.
Das Bild der traditionellen Familie hat sich gewandelt, auch die zunehmende Digitalisierung wirkt sich immens auf den Lebensstil der Menschen aus. Obwohl die europäischen Städte immer dichter werden, zeichnet sich ein Paradigmenwechsel in der „Produktion der Stadt" ab, mit zunehmender Nachfrage nach gemeinschaftlichem, selbstbestimmtem und integrativem Wohnen, das dem neoliberalen Modell der Kooperation von Politik, Stadtverwaltung und Kapital entgegenwirkt, nach dem Architektur noch heute entsteht. Unsere Masterthesis widmet sich der Stadt als Lebensraum der Zukunft, sodass eine der Schlüsselfragen dieser Arbeit sich mit der Thematik auseinandersetzt, wie Menschen mit unterschiedlichen Weltanschauungen und Hintergründen dort nachhaltig, selbstbestimmt und gemeinschaftlich zusammenleben können, ohne dabei die Bedürfnisse des Einzelnen zu vernachlässigen und welche Rolle das gebaute Umfeld in dieser komplexen Realität einnimmt.
Entwurfsansatz
Um eine räumlicharchitektonische Antwort auf die gestellten Fragen sowie die Probleme des heutigen Wohnungsbaus zu geben, haben wir ein 27,4 ha großes, ehemaliges Bahngrundstück angrenzend an ein Gründerzeitviertel westlich der Nürnberger Altstadt für unseren Entwurf gewählt. Das Bild einer Stadt, und damit die Identifikation ihrer Bewohnerinnen und Bewohner mit ihr, manifestiert sich zumeist im öffentlichen Raum. Durch die Einbeziehung der bestehenden, orthogonalen Bebauungsstruktur tritt das neue Quartier einerseits nicht in Konkurrenz zum Bestand, andererseits soll dieser um zeitgemäße, gemeinschaftliche und integrative Wohnformen ergänzt werden, um die Resilienz gegenüber marktwirtschaftlichen und sozialen Veränderungen sowohl im bestehenden als auch im neuen Stadtteil zu erhöhen.
Die Heterogenität der Bautypologien soll dabei den unterschiedlichen Lebensstilen der zukünftigen Bewohner dienen, wobei bei der Ausarbeitung bewusst auf aufwendige und kostspielige Konstruktionen verzichtet wurde. Durch das Öffnen der Blockränder kann der Binnenraum für verschiedene Nutzungen erschlossen werden, sodass eine neue, dichte und hybride Gebäudestruktur entsteht, die in ihrer sozialräumlichen Ausgestaltung dennoch auf dem Gründerzeitblock aufbaut.
Der Entwurf beinhaltet neben der städtebaulichen Vision vier bis ins Detail ausgearbeitete Blöcke mit über 70 verschiedenen Wohnungsgrundrissen. Dabei wird der Typus des Gründerzeitblocks insofern verändert, sodass die Verschränkung von Wohnen und Arbeiten weiterhin gegeben ist, wodurch große Pendlerströme verhindert werden können und eine weitgehend autofreie Nachbarschaft geschaffen werden soll. Kleine Nischen und Innenhöfe sollen nicht nur für ausreichend Licht, Luft und Sonne sorgen, sondern auch der Gemeinschaft genügend Freiraum zur Entfaltung geben. Die städtebauliche, als auch die einzelne Blockstruktur sollte dabei durchlässig, aber dennoch so organisiert sein, dass sie unbewusste Schwellen vom öffentlichen zum teilöffentlichen oder gemeinschaftlichem Raum bildet.
Wo es kulturell und sozial förderlich erscheint, soll das Private geöffnet werden, wo keine öffentlich relevanten Interessen erkennbar sind, soll es getrennt werden, wodurch privates oder kollektives Handeln erst ermöglicht wird. Durch die so entstehende Möglichkeit der Bewohnerinnen und Bewohner, den Grad des Austauschs mit der Öffentlichkeit unabhängig bestimmen zu können, soll abermals die Identifikation dieser mit ihrem Wohnort erhöht werden, wodurch wiederum ein Beitrag für eine integrative Stadtentwicklung geleistet werden kann.