4 von 5 der stationär behandelten COVID-19-Patienten entwickeln neurologische Beschwerden
19.10.2020 - COVID-19 geht sehr häufig mit neurologischen Beschwerden einher. Wie häufig, zeigt eine aktuell publizierte Arbeit: Insgesamt beträgt die Prävalenz mehr als 80% und fast jeder dritte Patient erleidet eine Enzephalopathie.
Eine Arbeitsgruppe der Charité – Universitätsmedizin Berlin und des Deutschen Zentrums für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE) liefert dafür eine einleuchtende Hypothese: Sie zeigte, dass einige SARS-CoV-2-Antikörper aus dem Blut von COVID-19-Patienten nicht nur an das Virus binden, um es zu neutralisieren, sondern auch an Strukturen des Gehirns und des Nervensystems. Dadurch könnten die neurologischen Beschwerden ausgelöst werden.
COVID-19 kann zu vielen verschiedenen neurologischen Manifestationen und Komplikationen führen – und zwar unabhängig von der Schwere der Atemwegsinfektion oder anderen Organbeteiligungen. Die Vielzahl an Veröffentlichungen von Fallserien und Studien führte daher zur Bezeichnung „Neuro-COVID“. Das neurologische Beschwerdespektrum reicht dabei von Riech- und Geschmacksstörungen über Schlaganfälle, Epilepsie und Lähmungen bis zu Verwirrtheit und MS-ähnlichen Bildern. Auffällig ist außerdem, dass sehr viele Betroffene nach Abklingen der akuten Erkrankung nicht beschwerdefrei werden, man spricht dann von einem „Post-COVID-Syndrom“. Im Vordergrund stehen dabei Müdigkeit bzw. Fatigue und reduzierte Belastbarkeit; in einigen Fällen bleiben aber auch neurologische Symptome und Ausfälle zurück.
Eine aktuelle Studie aus Chicago hat die Bandbreite der neurologischen Beschwerden im Kontext einer COVID-19-Erkrankung zusammengetragen und deren Häufigkeit evaluiert: Fast die Hälfte der Patienten zeigten zu Beginn der Erkrankung (42,2%) neurologische Beschwerden, bei den Patienten, die wegen COVID-19 in ein Krankenhaus aufgenommen werden mussten, waren es sogar fast zwei Drittel (62,7%). Noch höher war der Anteil der Patienten, die insgesamt im Verlauf der COVID-19-Erkrankung neurologische Beschwerden entwickelten (also nicht nur zum Zeitpunkt des Krankheitsbeginns): das waren 82,3%, also vier von fünf Patienten. Besonders häufig waren Muskelschmerzen (44,8%), Kopfschmerzen (37,7%) und Enzephalopathien (31,8%), ein Sammelbegriff für diffuse Gehirnschädigungen.
„Diese hohe Prävalenz zeigt, dass neurologische Expertise gefragt ist und COVID-19-Erkrankte grundsätzlich neurologisch mitbetreut werden müssen, weil gerade bei schwerer Betroffenen das Erkennen neurologischer Manifestationen nicht einfach ist“, erklärt Professor Dr. Peter Berlit, Generalsekretär der DGN. „Wir haben in den vergangenen Monaten gelernt, dass COVID-19 nicht nur eine pulmonale Erkrankung ist, sondern das Virus verschiedene Organe angreift, und dabei in einem besonderen Maße das Gehirn und Nervensystem.“
Doch wie genau erfolgt dies und wieso entstehen überhaupt neurologische Beschwerden in Zusammenhang mit der neuartigen Infektionskrankheit? Eine kürzlich publizierte Antikörper-Studie der Arbeitsgruppe um Prof. Dr. Harald Prüß von der Charité Berlin, Sprecher der DGN-Kommission Neuroimmunologie, liefert einen plausiblen Erklärungsansatz.
Bei einer SARS-CoV-2-Infektion werden vom Immunsystem eine Vielzahl monoklonaler Antikörper (mAbs) gegen verschiedene Strukturen des Virus gebildet. Nicht alle mAbs haben aber gleich gute „Virus-neutralisierende“ Eigenschaften. Daher ist die detaillierte Charakterisierung von Virus-neutralisierenden Antikörpern und ihren Zielantigenen (bzw. Epitopen) wichtig, um die COVID-19-Pathophysiologie genauer zu verstehen und gezielte Behandlungs- und Immunisierungsstrategien zu schaffen. In der aktuellen Studie wurden mit dem Ziel der Entwicklung einer passiven Impfung, d.h. der Behandlung von Erkrankten mit im Labor hergestellten schützenden Antikörpern, aus fast 600 humanen mAbs von zehn COVID-19-Patienten 40 stark neutralisierende Antikörper identifiziert und weiter analysiert. So konnten diese mAbs die Lungenerkrankung bei Hamstern – die wie Menschen anfällig für SARS-CoV-2 sind – bei früher Gabe nahezu vollständig verhindern, ein wichtiger Meilenstein auf dem Weg zu einer passiven Immunisierung beim Menschen. Die Forscher fanden bei der detaillierten Charakterisierung der SARS-CoV-2-Antikörper aber auch heraus, dass es sich bei vielen mAbs um sogenannte Keimbahn-nahe Antikörper handelt, die sich in einem frühen Stadium der im Körper stattfindenden Antikörper-Auslese („Reifung“) befinden. Diese Keimbahn-nahen Antikörper haben prinzipiell die Fähigkeit, an mehr als ein spezifisches Zielantigen zu binden („Off-Target-Bindung“). Die Arbeitsgruppe zeigte tierexperimentell, dass manche dieser Keimbahn-nahen SARS-CoV-2-Antikörper tatsächlich mit Eigenantigenen verschiedener Organe reagieren, unter anderem mit Hirngewebe. Hier könnte also ein Schlüssel für den Zusammenhang von COVID-19 und neurologischen Symptomen sowie Begleit- und Folgeerkrankungen liegen.
„Als nächstes müssen wir klären, gegen welche körpereigenen Eiweiße sich die SARS-CoV-2-Antikörper genau richten“, erklärt Studienautor Prof. Dr. Harald Prüß. „Insbesondere in Bezug auf Neuro-COVID und das Post-COVID-Syndrom, aber auch im Hinblick auf vermeidbare Komplikationen zukünftiger Impfungen, ist eine mögliche Kreuzreaktivität mit körpereigenen Strukturen von großer Bedeutung und muss nun weiter untersucht werden – experimentell sowie an den Antikörpern aus dem Plasma und Liquor von großen Patientenkohorten.“