Labor & Diagnostik

Leukämiebefall des Nervensystems besser erkennen

09.02.2021 - Ein Kieler Forschungsteam entdeckt Zusammenhänge zwischen bestimmten Signalmolekülen und dem Befall des Nervensystems bei Blutkrebs im Kindesalter.

Eine der häufigsten Krebserkrankungen bei Kindern ist die akute lymphatische Leukämie (ALL). Dieser Blutkrebs geht von bösartig entarteten Vorläuferzellen bestimmter weißer Blutkörperchen aus und verursacht meist eine schnell fortschreitende Verminderung der Knochenmarksfunktion und damit eine gestörte Blutbildung. Unbehandelt kann sie innerhalb kurzer Zeit zum Tod führen. Die häufigste Form dieses Blutkrebses im Kindesalter mit rund 80 % der Fälle ist die sogenannte B-Vorläuferzellen-ALL (B-ALL), etwa 600 Kinder werden in Deutschland jährlich neu mit dieser Krebsart diagnostiziert. Trotz der Schwere der Erkrankung haben die Betroffenen heute meist gute Überlebens- und Heilungschancen. In drei bis fünf Prozent der Fälle tritt bei der B-ALL jedoch nachweislich ein Befall des zentralen Nervensystems (ZNS) als gravierende Komplikation auf. Zusätzlich ist davon auszugehen, dass nicht bei allen Patienten der Befall erkannt wird.

Ein Forschungsteam der Medizinischen Fakultät der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel (CAU) und der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin I des Universitätsklinikums Schleswig-Holstein (UKSH), Campus Kiel, hat nun erforscht, welche molekularen Prozesse beim Befall des Nervensystems beteiligt sind und wie dieser präziser erkannt werden kann. Ein bestimmtes Signalmolekül, das sogenannte CD79a, scheint eine zentrale Rolle beim Anwachsen von B-ALL-Zellen im ZNS zu spielen. Möglicherweise steht es auch im Zusammenhang mit Rezidiven, also dem Wiederauftreten des Blutkrebses nach einer zunächst erfolgreichen Behandlung.

Bessere Diagnose des ZNS-Befalls

Obwohl die B-ALL im Kindesalter generell gut behandelbar ist, besteht das Risiko eines ZNS-Befalls. Dieser äußert sich in den allermeisten Fällen darin, dass sich die Leukämiezellen insbesondere in den Hirnhäuten der Betroffenen ansiedeln. Da die Heilungschancen bei dieser Komplikation abnehmen und die zur Verfügung stehenden Methoden zur Bestimmung eines ZNS-Befalls zudem relativ ungenau sind, werden derzeit alle B-ALL-Patienten prophylaktisch mit einer Chemotherapie oder Kombination aus Chemo- und Strahlentherapie behandelt, um das Einwandern der Krebszellen in das ZNS zu verhindern. Wegen der unspezifischen, auch für gesunde Zellen toxischen Wirkung und einer dadurch möglichen dauerhaften Schädigung des Nervensystems sind diese Behandlungsformen insbesondere bei Kindern problematisch.

Der Forschungsansatz der Kieler Wissenschaftler verspricht hier eine präzisere Diagnostik. „Wir konnten zeigen, dass das Vorkommen des CD79a-Moleküls in den B-ALL-Zellen anzeigt, wie gut sich eine Leukämie im Nervensystem einnisten kann“, erklärt Erstautor Dr. Lennart Lenk, wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Arbeitsgruppe Translationale ALL-Forschung. „Damit steht uns ein potentieller neuer Indikator für das Vorhandensein von Leukämiezellen im ZNS zur Verfügung. Die Entschlüsselung solcher Moleküle, die die Methoden zur Diagnose des ZNS-Befalls verbessern können, würden in der klinischen Anwendung bedeuten, dass künftig die riskante Behandlung mit Chemo- oder Strahlentherapie nur dann eingesetzt werden muss, wenn es unbedingt nötig ist, weil eben das ZNS tatsächlich befallen ist“, so Lenk weiter.

Einnisten der Leukämie im ZNS hemmen

Bei der B-ALL spielt eine gestörte Entwicklung bestimmter Immunzellen, der B-Zellen, eine zentrale Rolle: Die Erkrankung beruht im Wesentlichen darauf, dass die noch nicht funktionellen Vorläuferzellen sich nicht in reife B-Zellen verwandeln können. Stattdessen teilen sie sich ungebremst immer weiter, überschwemmen dadurch gewissermaßen das Blut und unterbrechen schließlich die gesunde Blutbildung. Das Molekül CD79a fungiert als Signal-Molekül des B-Zell-Rezeptors und ist ein wichtiger Teil dieses gestörten Prozesses. Im Normalfall wird das Molekül im Verlauf der Zellentwicklung mehrfach umgelagert und gelangt schließlich an die Zelloberfläche. Die dann ausgereifte B-Zelle kann anschließend ihre normalen Funktionsweise aufnehmen.

Das Kieler Forschungsteam hat nun die Beteiligung des CD79a an der B-ALL untersucht und dazu Proben von  Patienten analysiert und weitere experimentelle Methoden herangezogen. Sie konnten anhand großer Probenmengen aus verschiedenen Biobanken bestätigen, dass das CD79a-Niveau bei Betroffenen mit einer B-ALL mit ZNS-Befall tatsächlich signifikant höher liegt als in der Vergleichsgruppe. Die Expression des Moleküls eignet sich jedoch möglicherweise nicht nur als Diagnosemarker. „In verschiedenen Experimenten konnten wir zeigen, dass das Ausschalten des Moleküls das Anwachsen von Leukämiezellen stark verminderte“, sagt Lenk. „Möglicherweise ist das Vorhandensein des CD79a selbst Voraussetzung dafür, dass es zu einer ZNS-Infiltration kommen kann“, so Lenk weiter.

Diese neuen Erkenntnisse deuten darauf hin, dass das Molekül ein mögliches neues Ziel für künftige Immuntherapien gegen B-ALL sein könnte. „Wir suchen daher zurzeit nach Möglichkeiten, um das Molekül gezielt zu hemmen. Dafür haben wir bereits vielversprechende Ansätze gefunden, die nun noch genauer untersucht werden müssen“, betont Schewe, Leiter der Arbeitsgruppe Translationale ALL-Forschung. Konkret erproben die Kieler Forschenden in aktuell laufenden Experimenten, ob sich dazu ein bereits in der klinischen Anwendung gegen andere Krebsformen befindlicher Antikörper eignet, der auf CD79 abzielt. „Insgesamt sehen wir das Potenzial einerseits zur präziseren Diagnose des ZNS-Befalls bei B-ALL-Erkrankten und andererseits für künftige Behandlungsansätze in Form neuartiger Immuntherapien, die auf einer Hemmung des Signalmoleküls aufbauen könnten“, fasst Schewe zusammen.

„Die neuen Ergebnisse aus Professor Schewes Arbeitsgruppe zeigen eine wertvolle Perspektive für die künftige Bekämpfung einer besonders häufigen Blutkrebserkrankung bei Kindern auf. Die Arbeiten in der Kieler ALL-Forschung stehen daher exemplarisch für das Bestreben im gesamten Kieler Krebsforschungsnetzwerk, eine möglichst direkte Übertragung vielversprechender Forschungsergebnisse in die klinische Anwendung zu erreichen“, betont Prof. Susanne Sebens vom Institut für Experimentelle Tumorforschung an der CAU und Sprecherin des Kiel Oncology Networks.


 

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