Gesundheitsökonomie

Die Corona-Krise radikalisiert die drängende Frage nach den Alternativen zum Pflegeheim

Ein Beitrag von Univ.-Prof. Dr. Frank Schulz-Nieswandt, KDA-Kurator und ehemaliger Vorsitzender des KDA

31.05.2021 - Vor der Positionierung des KDA durch eine kritische Analyse über die »Kasernierung« der Bewohner und Bewohnerinnen in Pflegeheimen hat das KDA bereits das Problem der Hygieneregime in Pflegeheimen zum Thema gemacht, die das Wohnen entnormalisieren und hospitalisieren durch klinische Regime. Bevor sich die Corona-Krise entfaltete, breitete sich ferner eine dynamische Pflegereform-Diskussion aus.

Das KDA hat sich mit einer gesellschaftspolitischen Perspek­tive beteiligt durch ein Positionspapier, argumentierend, dass Pflege­politik als Teil der Sozialpolitik im Rahmen einer gestaltenden Gesellschaftspolitik konzipiert werden muss. Dabei trat u. a. die Sozialraumorientierung radikal in den Mittelpunkt der Vision. Dabei geht es um die Differenzierung der Wohnformen im Alter und die Eingrenzung der Idee, den demographischen Wandel und der damit verbundenen Zunahme der Pflegebedürftigkeit hauptsächlich durch den mechanischen Reaktionsstil eines Bettenkapazitätsbooms zu beantworten. Im Hintergrund wartet das Kapital in der Begierde auf Anlagemöglichkeiten eines sicheren Renditesektors.

Diskriminierung und Kasernierung
Worum geht es? Es geht nicht um die Schutzbedürftigkeit des alten Menschen angesichts seiner Gefährdung. Gleichwohl sind die Bilder vom Alter nach wie vor in diskriminierender Weise viel zu undifferenziert. Problematisch ist vielmehr die dispositive Dominanz des Sicherheitsdenkens und der daraus resultierenden sozialen Praktiken des Wegschließens, was ich Kasernierung nannte. Selbstbestimmung und Teilhabe als Grundrechte und als konstitutive Dimensionen der Würde der Person – das sind Ankerbegriffe des sozialen Rechtsstaates, die sich im Grundgesetz, im europäischen Verfassungsrecht und im Völkerrecht in der Form der UN-Grundrechtskonventionen findet – und die den Geist der Sozialgesetzbücher sowie der Wohn- und Teilhabegesetze der Länder prägen.

Tiefsitzende Programmcodes
Es mag sein, dass die Situation des Krisenmanagements in diesen Settings keine triviale Aufgabe war. Doch der Verlust der (ohnehin nur begrenzten) Sozialraumöffnung und der Einbruch sozialer Beziehungen induziert – fachwissenschaftlich in der gerontologischen Pflegeforschung unstrittig – dramatisch einzuschätzende negative Folgen für Geist, Seele und Körper der Bewohnerschaft. Aber als eine verborgende Grammatik dieses stationären Sektors kam an die Oberfläche, dass diese Sonderwohnform, die rechtlich als Einrichtung betitelt wird, in der Tiefe ihres Programmcodes die Tradition einer totalen Institution nicht abgeschüttelt hat und sich immer noch auf eine Kultur des »satt, sauber, trocken und still«-Dispositivs fixiert.

Mag auch sein, dass die Verkürzung der Wohndauer hochaltriger Bewohner und Bewohnerinnen hier zu einer Dichte besonders vulnerabler Menschen geführt hat. Aber genau in dieser Dichte liegt das Problem. Die Würde des alten Menschen in unserer Gesellschaft kommt in einem rationierten Budget zum Ausdruck, das von der »economics of scale, scope and density« beherrscht wird. Normales Wohnen im Sozialraum sieht anders aus.

Deshalb geht es in meiner Kritik auch um die längerfristige Weichenumstellung:

  • Moratorium des stationären Bauens und somit des Sogeffekts dieser panoptischen Welt sozialer Ausgrenzung.
  • Radikale Sozialraumorientierung inklusiver Gemeindeentwicklung in Verbindung mit der Differenzierung der Wohnformen.
  • Ausbau der hybriden („stambulant“ mag schon wieder ein ministerialbürokratischer Begriff des technokratischen Sozialrechts sein, der auf lukrative neue Geschäftsmodellideen der Sozialkonzerne und Sozialunternehmen reagiert) Formen jenseits von ambulant und stationär im Sinne des § 3 SGB XI gehören in diese neuere Entwicklung.
  • Allerdings sollten hier radikal neue Wege mit sozialer Phantasie und konkreten Utopien angedacht werden, dabei der Gemeinwohlökonomie mehr Entwicklungsraum bietend. Der genossenschaftliche Gedanke könnte im Sinne bürgerschaftlicher Selbstverwaltung des Gesamtversorgungsvertragswesens im Sinn des § 72 SGB XI stärker zur Wirkung kommen. Das KDA denkt diese Perspektive im Rahmen der Idee von Wohnen 6.0 an.
  • Lebensqualitätszentrierte Weiterentwicklung verbleibender Strukturen der stationären Versorgung als Kulturentwicklung im Rahmen neuer öffentlicher Steuerung im Rahmen des geltenden Vertragsrechts.
  • Ordnungspolitische Fundamentalreform des Vertragswesens: Beendigung des obligatorischen Kontrahierungszwangs und Bildung eines bedingten Kontrahierungswesens, eingebettet in kommunale Steuerung der Strukturplanung in Verantwortungskooperation mit den Sozialversicherungen als Träger einer gemeinsamen Daseinsvorsorge.
  • Kreative, innovative Neu-Regulierung ohne neo-liberales Qualitäts­dumping: Entwicklung eines post-technokratischen Outcome-orientierten Qualitätsmanagements auf der Grundlage eines »Index der Non-Exklusion«: Messungen der Lebensqualität und Validierungen von Konzeptqualität statt Dokumentationsfetischismus von Strukturqualität.
  • Ermöglichung formativ evaluierter Öffnung experimenteller Möglichkeitsräume für neue Teamformationen formeller und informeller Personalbemessung im Rahmen des Landesrechts.
  • Beibehaltung der Wächterstaatsfunktion (wie im SGB VIII) als Missbrauchsaufsicht auf den Grundlagen eines menschenrechtskonventionellen Grundrechtsschutzes, aber Einbau von innovativen Verfahren dialogischer Verständigung über die verbindliche Organisation sozialer Lernprozesse von Einrichtungen.

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