IT & Kommunikation

Ein Algorithmus für die Notfall­versorgung der Zukunft

02.11.2021 - Neue Rahmenbedingungen für die Software in der Notaufnahme

Der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) arbeitet derzeit die Vorgaben für die Ersteinschätzung des medizinischen Versorgungsbedarfs von Hilfesuchenden in der Notfallambulanz aus. Die große Reform der Notfallversorgung ist in der vergangenen Legislatur ausgeblieben. Aber mit dem Gesetz zur „Weiterentwicklung der Gesundheitsversorgung“ hat der
G-BA die Aufgabe bekommen, Vorgaben zur Durchführung einer qualifizierten und standardisierten Ersteinschätzung des medizinischen Versorgungsbedarfs von Hilfesuchenden in der Notfallambulanz zu machen.

Das Ersteinschätzungsverfahren soll künftig immer dann greifen, wenn sich Versicherte mit Krankheitsbeschwerden Hilfe suchend an die Notaufnahme eines Krankenhauses wenden – also quasi bei jeder Selbsteinweisung, die nicht über den Rettungswagen reinkommt. Ziel ist es, den medizinischen Bedarf in den Notaufnahmen je nach Schwere der Erkrankung oder Verletzung bestmöglich zu koordinieren. Das heißt, es soll zwischen jenen eintreffenden Patienten unterschieden werden, die sofort stationär oder ambulant im Krankenhaus behandelt werden müssen, und solchen, die aufgrund nur leichter medizinischer Probleme einen Termin bei einer niedergelassenen Ärztin bzw. einem niedergelassenen Arzt erhalten.

Der G-BA soll bis Juli 2022 die Vorgaben zur Durchführung der qualifizierten und standardisierten Ersteinschätzung machen – und zwar zur Qualifikation des medizinischen Personals, das die Ersteinschätzung vornimmt, zur Einbeziehung ärztlichen Personals bei der Feststellung des Nichtvorliegens eines sofortigen Behandlungsbedarfs, zu Form und Inhalt des Nachweises der Durchführung der Ersteinschätzung, zum entsprechenden Nachweis gegenüber der Terminservicestelle, und zur Weiterleitung an Notdienstpraxen oder zu an der vertragsärztlichen Versorgung teilnehmenden Ärzte und medizinischen Versorgungszentren. Der G-BA soll dabei Instrumente berücksichtigen, die bereits in der Praxis genutzt werden. Schon jetzt intensiv genutzt wird SmED (Strukturiertes medizinischen Ersteinschätzungsverfahren für Deutschland).

SmED hat beste Karten

Medizinisches Fachpersonal setzt diese Software in der Telefonzentrale der 116 117 ein. Dabei soll das Programm über die Ersteinschätzung nicht allein entscheiden – sondern lediglich das Personal unterstützen. SmED wurde für die Anwendung in Deutschland im Auftrag des Zentralinstitut für die kassenärztliche Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland von der Firma HCQS (einem Gemeinschaftsunternehmen des Göttinger aQua-Instituts und der Schweizer in4medicine AG) entwickelt. Die Software ist als Medizinprodukt zertifiziert und unterliegt somit der Medizinproduktegesetzgebung.

Gezielte und strukturierte Fragen soll die Software in die Lage versetzen, eine Empfehlung hinsichtlich der Behandlungsdringlichkeit und des angemessenen Behandlungsortes zu ermitteln. SmED ist dabei zwar ein neuronales Netzwerk. Dies ermöglicht es Nutzenden, rund hundert kombinierbare Symptome samt vertiefenden Fragen anzubieten. Allerdings ist es keine künstliche Intelligenz, die aus den Fragen Schlüsse ziehen könnte. Die Software wird bereits im Innovationsfondsprojekt Demand – Implementierung einer standardisierten Ersteinschätzung als Basis eines Demand Managements in der ambulanten Notfallversorgung – eingesetzt. Ziel ist es hier, die von den Kassenärztlichen Vereinigungen und Kliniken bereitgestellten Ressourcen zur Notfallversorgung effizienter zu nutzen und so die Versorgung von Patienten mit akuten Behandlungs- und Beratungsbedürfnissen zu verbessern. SmED befindet sich insgesamt in einer guten Position, die künftigen Vorgabe des G-BA zu erfüllen.

Neben der Demand Studie gibt es aber auch z. B. die Optinova Studie. Diese hatte 2020 den DIVI-Forschungspreis gewonnen und gehört ebenfalls zu den Forschungsprojekten des G-BA. Auf Basis etablierter Triage-Systeme wurden hier bereits Notfall-Algorithmen für die 20 häufigsten Leitsymp-tome (Stand 2020) entwickelt. Sie wurden webbasiert als intelligenter Assistenzdienst auf mobilen Endgeräten zur Verfügung gestellt. In enger Kooperation zwischen der Kassenärztlichen Vereinigung und den Modellkliniken soll so eine bessere und bedarfsgerechte Verteilung der Patientenströme ermöglicht werden. Im Erfolgsfall soll auch dieses Verfahren bundesweit eingesetzt werden. Da die technologische Umsetzung auf einer internetbasierten Softwarelösung basiert, wäre dabei der Einsatz orts- und zeitunabhängig. Neben der Universitätsmedizin Göttingen und Magdeburg nehmen auch Krankenkassen wie die AOK Niedersachsen oder die Techniker Krankenkasse teil. Auch dies kommt dem nahe, was der G-BA formulieren soll.

Egal, wer das Rennen macht: Die Vergütung ambulanter Leistungen zur Behandlung von entsprechenden Notfällen im Krankenhaus wird künftig voraussetzen, dass bei der Durchführung der Ersteinschätzung ein sofortiger Behandlungsbedarf – von Menschen, Software oder beiden zusammen – festgestellt wurde. Damit wird das Ersteinschätzungsverfahren essenziell für die Krankenhäuser. Der G-BA soll dabei die Entwicklung der Leistungen in Notaufnahmen evaluieren und darüber bis Ende 2025 dem Bundesgesundheitsministerium berichten. Eine einheitliche Regelung zur Erst- beziehungsweise Notfallversorgung steht aber auch mit dem Ende der Legislatur immer noch aus. Dabei befürworten Gesundheitsexperten seit Längerem die organisatorische Neuordnung der Notfallversorgung.

Die Politik mischt mit

Die FDP fordert über festgelegte Telefonnummern ständig erreichbare Integrierte Notfallleitstellen (INL), die eine Lotsenfunktion übernehmen sollten. Integrierte Notfallzentren (INZ) sollten als jederzeit zugängliche Einrichtungen der medizinischen Notfallversorgung geschaffen werden. Mit den Ländern müsse über eine Reform der Kompetenzverteilung im Bereich der Rettungsdienste, Krankenhäuser und sonstigen Einrichtungen zur Gesundheitsversorgung aufgenommen werden. Ziel sei der Abbau der ambulant-stationären Sektorengrenze und die Schaffung eines einheitlichen ordnungsrechtlichen Rahmens für den Rettungsdienst.

Auch die Grünen wollten die Notfallversorgung mit einem Gesetzvorhaben Mitte des Jahres reformieren. Der Sicherstellungsauftrag für eine integrierte Notfallversorgung sollte auf die Länder übertragen werden. In integrierten Leitstellen sollte mittels standardisierter Ersteinschätzung das passende Hilfsangebot gefunden werden. Zudem müssten einheitliche medizinische Behandlungsleitlinien zur Versorgung von Notfallpatienten etabliert werden. Schließlich müssten die Bürger über Strukturen und Hilfsangebote informiert werden. Nach Vorstellungen des GKV-Spitzenverbandes sollte dagegen die Notaufnahme im Eingangsbereich der Krankenhäuser neu organisiert werden: Für die Notfallversorgung sollten nur jene Krankenhäuser zugelassen werden, die – gemäß den Vorgaben des G-BA – über eine KV-Notdienstpraxis und einen gemeinsamen Tresen verfügen. Die für viele Krankenhäuser wichtigen Notaufnahmen werden auch in der neuen Legislatur zahlreichen Veränderungen unterliegen.


Autor:
Lutz Retzlaff, Neuss

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