Vernetzung als Analyse- und Steuerungsplattform
16.11.2021 - Strukturierte Datennetzwerke bilden die Basis für sichere und schnelle digitale Medizin. Viele Fragestellungen sind aber noch nicht gelöst.
Die Corona-Pandemie ist ein Paradebeispiel für die Notwendigkeit einer „ordentlichen“ Vernetzung im Gesundheitswesen. Doch auch abseits von Notfall und Gefahrenlage unterliegen der Datenaustausch und die Interaktion zwischen den Einrichtungen technischen und organisatorischen Grenzen, die eine effektive und kosteneffiziente Versorgung der Menschen erschweren. So belegt die Bundesrepublik Deutschland im jährlich veröffentlichten „Digital Economy and Society Index“ (DESI) der EU-Kommission im Bereich E-Health nur einen der letzten Plätze. Die DESI-Zahlen der vergangenen fünf Jahre zeigen jedoch, dass gezielte Investitionen und entschlossene Digitalisierungsmaßnahmen erhebliche Auswirkungen auf die Leistungsfähigkeit der einzelnen Länder haben können. Beispiele hierfür sind der Ausbau des ultraschnellen Breitbandnetzes in Spanien, die Verbesserung der Konnektivität in Zypern, die Digitalisierung von Unternehmen in Irland sowie die digitalen öffentlichen Dienstleistungen in Lettland und Litauen. Auf den ersten Plätzen rangieren Finnland, Estland und Dänemark. Dort amortisieren sich die digitalen Maßnahmen der Vernetzung: Diesen Ländern gelang es trotz erheblicher Investitionen ihren Anteil der Gesundheitsausgaben am Bruttoinlandsprodukt (BIP) unter dem deutschen BIP-Wert zu halten. Gleichzeitig verbessert sich die Patientenversorgung, weil beispielsweise Doppel- und Fehlbehandlungen leichter erkannt und reduziert werden können.
Medizinische Sparmaßnahmen
Das Gesetz zur digitalen Modernisierung von Versorgung und Pflege (DVPMG) hat den Bundestag passiert. Mit diesem Gesetz wird die Projektgesellschaft Gematik beauftragt, die elektronische Gesundheitskarte (eGK) durch eine elektronische Online-Identität abzulösen. Daten wie der Notfalldatensatz, die heute auf einer eGK gespeichert werden können, sollen in eine automatisch angelegte Patientenkurzakte wandern. Mit dem DVPMG wird nämlich auch die TI-2.0-Infrastruktur gesetzlich verankert. Die Gematik bekommt den Auftrag, einen „Zukunftskonnektor“ als Software zu entwickeln und anstelle der eGK bis zum 1. Januar 2024 eine digitale Identität für alle gesetzlich Versicherten einzuführen.
Was bis dahin auf der Karte gespeichert wurde, wandert in eine elektronische Patientenkurzakte. Die Kurzakte wird für jeden gesetzlich Versicherten automatisch angelegt und speichert Notfalldaten, Medikationspläne und Organspendeerklärungen. Ärzte und andere Leistungserbringer können die Daten online ohne Zustimmung des Patienten abrufen. Ob für Patienten ein Opt-out möglich sein wird, ist bislang unklar. Hinzu kommen ein neuer Messenger-Dienst für die TI, Videokommunikation für Ärzte sowie Erweiterungen der Videosprechstunden für Patienten. Zudem investiert die Bundesregierung in digitale Pflegeanwendungen (DiPA), die beispielsweise Demenzpatienten beim Gedächtnistraining oder Angehörigen bei der Organisation der häuslichen Pflege helfen sollen.
Voluminöse Projekte
Bis 2025 sollen 130 Mio. € in die Entwicklung von DiPA fließen, die die bisherigen digitalen Gesundheitsanwendungen (DiGA) ergänzen. Und damit Versicherte und Ärzte nicht den Überblick verlieren, wird für DiPA und DiGA ein „nationales Gesundheitsportal“ für 9,5 Mio. € aufgebaut. Mit all diesen Reformen wird sich auch die Rolle der Gematik ändern. Sie soll im Rahmen einer Rechtsverordnung die Stelle werden, die Standards setzt und überwacht – ähnlich wie es das BSI im Bereich der IT-Sicherheit macht. Die Gematik schlägt die Abschaffung jener Identitätsanker vor, die heute im deutschen Gesundheitswesen zum Einsatz kommen: Softwarebasierte Identitätsprozesse sollen die elektronische Gesundheitskarte der Versicherten, den Heilberufsausweis der Ärzte, die in den Kartenlesegeräten eingesetzte „SMC-B“ Institutionenkarte und nicht zuletzt die Konnektoren ersetzen – also die VPN-Hardware, die Praxen, Krankenhäuser und Apotheken mit der TI verbindet.
Besonders der angedachte Wegfall der Konnektoren erregt die Gemüter. Bis heute sind noch nicht einmal alle der bundesweit rund 180.000 Arztpraxen und Kliniken überhaupt über solch ein Gerät an die Telematikinfrastruktur (TI) angeschlossen: Folgt man den Zahlen eines Anbieters, waren im Februar 2021 noch 15 bis 20 % unversorgt. Sie benötigen den Konnektor in den kommenden Monaten trotz der neuen Pläne aber ebenfalls noch, um obligatorische Dienste wie die elektronische Patientenakte zu erreichen und befüllen zu können – und müssen ihn dann voraussichtlich nur wenige Jahre später wieder abschaffen. Dabei war der Konnektoranschluss diejenige Maßnahme, die alle Beteiligten, von Praxen und Kliniken über IT-Dienstleister bis hin zu den Herstellern, wohl am meisten Nerven gekostet hat. Teuer war es auch: Rund zwei Mrd. € sind bisher in den Ankauf und die Installation der Geräte geflossen. Finanziert haben dies letzten Endes die Versicherten, da die Kassen den Ärzten und weiteren „Leistungserbringern“ Kostenpauschalen für die Geräte erstattet haben. Die aktuell erst anlaufenden Anschlüsse der Apotheken stehen sogar noch aus. An die Stelle von Hardware und Chipkarten soll also ein umfassendes Identitätsmanagement treten. Dieses soll nach den Plänen der Gematik dann weitgehend auf OpenSource Ansätzen aufsetzen. Nach den Plänen der Gematik würden damit Versicherte ihre Gesundheitskarte abgeben, Ärzte ihren Heilberufsausweis. Statt zu einer physischen Karte greifen sie dann zum Smartphone. Die Rolle der Smartcards, die als Identitätsträger und Authentisierungsmittel eine Doppelfunktion haben, käme nach dem Willen der Gematik beispielsweise Krankenkassen, Ärzte und Apothekerkammern oder Kassenärztliche Vereinigungen als Identitätsprovider zu. Für Deutschland bleibt zu hoffen, dass der Umbau der TI zumindest günstiger und effizienter als ihre Inbetriebnahme wird.
Vernetzte Gesundheit im Zentrum
Das Ausmaß der Digitalisierung und Vernetzung im Gesundheitswesen ist ein Maßstab, wie gut sie die vorhandene IT-Informationslogistik bedienen kann. Die Konnektivität hat sich verbessert, reicht aber noch längst nicht aus, um die stark wachsende Nachfrage zu decken. Den DESI-Indikatoren zufolge nimmt die Nachfrage nach schnellen und ultraschnellen Breitbandnetzen zu. Ultraschnelle Verbindungen (mindestens 100 Mbit/s) stehen inzwischen 60 % aller Haushalte zur Verfügung, und die Zahl der Breitbandanschlüsse nimmt ebenfalls zu. 20 % aller Haushalte nutzen ultraschnelle Breitbandverbindungen; 2014 waren es nur 5 %.
Schweden und Portugal stehen bei der Nutzung der ultraschnellen Breitbanddienste an der Spitze; in Finnland und Italien ist die Zuteilung der 5G-Frequenzen am weitesten fortgeschritten. Dennoch gibt es Parameter, die bewusst gemacht werden sollten. Um es auf den Punkt zu bringen: Bis Mitte des Jahrhunderts wird es nicht mehr genügend junge Menschen geben, um die Gesundheits- und Pflegeversorgung und deren Kosten für eine Bevölkerung zu stemmen, die immer älter und oft auch immer kränker wird. Uns bleibt also gar nichts anderes übrig, als uns von einer persönlichen, vor Ort stattfindenden „One-to-One“-Versorgung weg – und stattdessen zu einem gut vernetzten, automatisierten „One-to-Many“-System hinzubewegen, das primär außerhalb ortsgebundener und physikalisch realer Einrichtungen stattfindet. Um dies umzusetzen, müssen wir unsere Patienten jedoch mit dem entsprechenden Equipment ausstatten und sie bei ihrem individuellen Gesundheitsmanagement im Alltag unterstützen - sei es zu Hause, bei der Arbeit oder woanders.
Bereits heute kommen Chatbots, virtuelle Assistenten und Heimroboter zu Einsatz, die die Grundlage für ein automatisiertes, vernetztes Gesundheitssystem schaffen, in dem Menschen die meiste Zeit reibungslos mit smarten Technologien - und nur bei medizinischer Notwendigkeit mit menschlichen Dienstleistern - interagieren. Eine häufige Herausforderung bei der Realisierung im Krankenhaus: Jeder Arzt bringt heute seine Sicht mit, seine Daten, die dann mühsam, oft händisch, mit denen der Kollegen zusammengeführt werden müssen. Künftig werden biometrische Echtzeitdaten passiv und innerhalb eines „Kosmos der gesunden Dinge“ erfasst. Das heißt, Milliarden von Alltagsgegenständen (Wearables, Smartphones, smarte Kleidung, smarte Waagen, smarte Messgeräte und sogar von Menschen oral einnehmbare Technologien) bilden ein miteinander verknüpftes Netzwerk, in dem personenbezogene Gesundheitsdaten erfasst, empfangen und geteilt werden. Bereits 2022 sollen elektronische „Patientenkurzakten“ und elektronische Verschreibungen grenzüberschreitend in den 22 Mitgliedstaaten, die an der digitalen eHealthDiensteinfrastruktur (eHDSI) beteiligt sind, genutzt werden können. Über die eHDSI können dann auch medizinische Bilddaten, Laborergebnisse und Entlassungsberichte ausgetauscht werden.
Autor: Hans-Otto von Wietersheim, Bretten