Wie werden Mütter und Neugeborene in der Pandemie versorgt
01.03.2022 - Die Corona-Pandemie stellt Gesundheitssysteme vor Herausforderungen, auch bei Schwangerschaften und Geburten. Wie gut die Gesundheitsversorgung von Müttern und Neugeborenen in Europa ist, haben Wissenschaftlerinnen der Universität Bielefeld als Mitglieder eines internationalen Forschungsteams untersucht.
Dazu haben die Forschenden 21.027 Frauen aus zwölf Ländern befragt, die während der Corona-Pandemie ein Kind zur Welt gebracht haben. Das Ergebnis: Innerhalb Europas gibt es große Ungleichheiten – und in allen untersuchten Ländern Verbesserungsbedarf. Die Studie ist im Fachmagazin „The Lancet Regional Health Europe“ erschienen. Sie entstand in Zusammenarbeit mit der Weltgesundheitsorganisation WHO.
„Unsere Befragung zeigt, dass die Geburtshilfe an einigen Stellen Lücken hat“, sagt Dr. Céline Miani von der Fakultät für Gesundheitswissenschaften der Universität Bielefeld. Die Wissenschaftlerin forscht in der Arbeitsgruppe „Epidemiologie und International Public Health“ und ist Mitautorin der Studie. 62 Prozent der befragten Frauen mit Wehen durften zum Beispiel während oder nach der Geburt nicht von einer Person ihrer Wahl begleitet werden. 41,8 Prozent berichteten von Schwierigkeiten, während der Schwangerschaft Zugang zu Untersuchungen zu bekommen. 31,1 Prozent der Frauen fühlten sich nur unzureichend beim Stillen unterstützt.
Dabei gibt es große Unterschiede zwischen den untersuchten europäischen Ländern: Während Länder wie Luxemburg, Spanien, Schweden, Frankreich und Deutschland vergleichsweise gut abschneiden, ist die Gesundheitsversorgung in Serbien, Rumänien oder Kroatien deutlich schlechter. Auch Frauen, die einen Kaiserschnitt hatten, erlebten eine schlechtere Behandlung.
„Unsere Studie ist die erste großangelegte, multinationale Studie zur Corona-Pandemie, die untersucht, wie Frauen die Gesundheitsversorgung während Schwangerschaft und Geburt wahrnehmen“, sagt Miani. Auf der Grundlage von WHO-Qualitätskriterien für die Geburtshilfe entwickelte das Forschungsteam einen Fragebogen für zwölf europäische Länder. 21.027 Frauen, die zwischen März 2020 und März 2021 entbunden hatten, gaben Auskunft dazu, wie sie die Gesundheitsversorgung wahrgenommen und welche pandemiebezogenen Besonderheiten sie erlebt haben.
Die Erhebung zeigt, wo es Handlungsbedarf gibt
„Wir können mit unserer Studie zwar keine Vergleiche dazu ziehen, wie gut Schwangere und Frauen im Wochenbett vor der Pandemie versorgt waren. Unsere Erhebung zeigt aber, wo aktuell Handlungsbedarf besteht“, sagt Miani. Auf Basis der Studie können Maßnahmen entwickelt werden, um die ungleiche Gesundheitsversorgung – auch unabhängig von der Pandemie – zu verbessern. Ein Beispiel für eine verbesserungswürdige Behandlung ist der Kristeller-Handgriff (Fundusdruck): Dabei wird durch Druck auf der Bauchdecke versucht, die Geburt zu beschleunigen. Weil die Methode mit Risiken verbunden und kaum wirksam ist, warnt die WHO vor ihrer Anwendung. „Unsere Studie zeigt aber, dass die Methode in vielen Fällen benutzt wird. In den Ländern, in denen das besonders häufig passiert, können dann klare Leitlinien helfen, die den Kristeller-Handgriff nicht empfehlen“, sagt Miani.
Die Studie ist Teil des Projekts Imagine Euro, das vom Institut Burlo Garofolo in Triest (Italien) koordiniert wird, einem Kollaborationszentrum der WHO. Für das Projekt arbeiten mehr als zehn europäische Länder interdisziplinär zusammen: In dem Forschungsnetzwerk sind zum Beispiel Epidemiologen oder Demografen organisiert, aber auch Ärzte und Geburtshelfer. „Unser Ziel ist, die Erfahrungen sowohl der Gebärenden als auch des beteiligten Gesundheitspersonals besser zu verstehen“, so Miani, die mit ihren Bielefelder Kolleginnen Stephanie Batram-Zantvoort und Lisa Wandschneider in dem Netzwerk forscht. Das Projekt ist 2019 gestartet und läuft noch bis Ende 2022. In weiteren Studien wollen die Wissenschaftler zum Beispiel einen detaillierteren Blick auf einzelne Länder werfen oder verschiedene Phasen der Pandemie beleuchten.
Miani und ihre Bielefelder Kolleginnen arbeiten für den deutschen Teil des Projekts. Die Wissenschaftlerinnen beschäftigen sich zum Beispiel mit der Medikalisierung von Geburten oder Gewalterfahrungen bei der Geburt, oder untersuchen an Berichten aus sozialen Medien, welche Erfahrungen Mütter bei der Geburt gemacht haben. „Eine schlechte Versorgung kann schwerwiegende Konsequenzen für die körperliche sowie mentale Gesundheit von Müttern und ihren Kindern haben“, sagt Miani.
Ein Beitrag zur Gesundheit von Eltern und Neugeborenen
Die Bielefelder Forscherinnen greifen für ihre Untersuchung auf Erfahrungen in der Genderepidemiologie oder Versorgungsforschung zurück. Für die Langzeitstudie BaBi hat Miani zum Beispiel die Gesundheit von Babys und Kindern in Bielefeld untersucht. „Wir hoffen, mit unserer Forschung einen Beitrag zur Gesundheit von Eltern und Neugeborenen zu leisten“, sagt Professor Dr. Oliver Razum, der die Arbeitsgruppe „Epidemiologie und International Public Health“ leitet.