Akute Myeloische Leukämie: klinische Studie stellt internationalen Therapie-Standard in Frage
13.12.2022 - Vor einer allogenen Stammzelltransplantation zur Behandlung einer Akuten Myeloischen Leukämie (AML) gilt eine Komplettremission bislang als Goldstandard. Eine bundesweite klinische Studie zeigt nun erstmals, dass dieses Vorgehen keinen Vorteil für das krankheitsfreie Überleben und das Gesamtüberleben bringt.
Ein alternativer Ansatz aus vorbereitender Therapie und anschließender sofortiger Übertragung der Stammzellen kann Nebenwirkungen verringern und Krankenhausaufenthalte verkürzen.
Zu diesem wichtigen Ergebnis kam die von Forschenden des Universitätsklinikums Carl Gustav Carus Dresden und am Nationalen Centrum für Tumorerkrankungen Dresden (NCT/UCC) geleitete Studie. Die Studie wurde von der DKMS als arzneimittelrechtlicher Sponsor ermöglicht und organisiert und von der Studienallianz Leukämie (SAL) und der Kooperativen Deutschen Transplantationsstudiengruppe getragen. Prof. Johannes Schetelig, Leiter des Bereichs Stammzelltransplantation am Universitätsklinikum Dresden und Leiter der klinischen Forschungseinheit der DKMS, stellte die Erkenntnisse aus der Studie beim weltgrößten Hämatologiekongress – der Jahrestagung der American Society of Hematology (ASH) – in New Orleans (Louisiana) vor.
Bei Patienten mit einer Akuten Myeloischen Leukämie wird bislang vor einer Transplantation nicht-patienteneigener (allogener) Blutstammzellen versucht, mit einer Hochdosis-Chemotherapie die Erkrankung so weit zurückzudrängen, dass keine Leukämiezellen mehr nachweisbar sind (Komplettremission). In einer groß angelegten bundesweiten Studie konnte ein Forscherteam nun erstmals zeigen, dass die bisher angestrebte Komplettremission keinen signifikanten Vorteil für das Gesamtüberleben und das krankheitsfreie Überleben bringt. Vielmehr deutet die Studie darauf hin, dass bei Vorhandensein eines HLA-kompatiblen Spenders (übereinstimmende Gewebemerkmale – human leukocyte antigens – auf der Oberfläche der weißen Blutzellen) eine 12-tägige vorbereitende Chemotherapie mit anschließender sofortiger Transplantation vergleichbare Behandlungsergebnisse bei geringeren Nebenwirkungen und kürzeren Klinikaufenthalten bringt.
Standard der Leukämietherapie wankt
„Die Ergebnisse unserer Studie bringen einen internationalen Standard der Leukämietherapie ins Wanken und waren auch für uns überraschend“, betont Studienleiter Prof. Johannes Schetelig. „Sie legen nahe, dass bei Verfügbarkeit eines HLA-kompatiblen Stammzellspenders die Transplantation so schnell wie möglich erfolgen sollte, auch wenn im Körper des Patienten weiterhin Leukämiezellen nachweisbar sind. Eine sofortige Transplantation ohne zuvor angestrebte vollständige Zurückdrängung der Erkrankung kann Nebenwirkungen insgesamt verringern und Krankenhausaufenthalte verkürzen.“
„Die allogene Stammzelltransplantation ist die effektivste Behandlungsmöglichkeit bei Patienten mit therapieresistenter oder wiederkehrender AML. Die bislang angestrebte vorherige Komplettremission ist selbst mit intensiven Chemotherapien nur bei etwa 50 % der Betroffenen überhaupt erreichbar. Ist die entsprechende Behandlung nicht erfolgreich, erhalten Patienten in Deutschland oft weitere Therapien mit ähnlich unbefriedigenden Erfolgschancen. Alternativ kann auf das Ziel einer Komplettremission verzichtet werden und nach entsprechender Vorbehandlung direkt eine Stammzelltransplantation angeboten werden“, sagt Erstautor Prof. Matthias Stelljes, Leiter des Bereichs Knochenmarktransplantation am Universitätsklinikum Münster. „In anderen Ländern mit weniger umfassender Gesundheitsversorgung erfolgt nach gescheiterter Komplettremission auch aus Kostengründen häufig keine Stammzelltransplantation mehr. Der Verzicht auf diesen kostenintensiven Zwischenschritt könnte somit weltweit mehr AML-Patienten die Möglichkeit einer Stammzelltransplantation eröffnen, die vielfach die einzige Chance auf Heilung bedeutet.“
In der Studie wurden 276 erwachsene AML- -Patienten behandelt, die aufgrund eines schlechten Ansprechens auf die initiale Chemotherapie oder eines Rückfalls eine allogene Stammzelltransplantation erhalten sollten. Bei allen Erkrankten war bereits ein Spender gefunden oder die Spendersuche weit fortgeschritten. Nach dem Zufallsprinzip wurden die Studienteilnehmenden in zwei etwa gleich große Gruppen eingeteilt. Bei Gruppe 1 wurde in Vorbereitung auf die Transplantation versucht, eine Komplettremission zu erzielen. Bei Patienten der Gruppe 2 erfolgte bei Vorliegen eines Spenders eine 12-tägige vorbereitende Therapie und anschließende sofortige Transplantation. In der ersten Gruppe konnte bei 46 % der Erkrankten eine Komplettremission erzielt werden. Bei 5 % der Betroffenen wurde ein zweiter Versuch unternommen, mittels hochdosierter Chemotherapie eine Komplettremission zu erreichen, die übrigen Patienten erhielten ohne diesen weiteren Versuch eine vorbereitende Therapie und Stammzelltransplantation. In Gruppe 1 lag der mittlere Zeitraum bis Transplantationsbeginn bei acht Wochen. In der zweiten Gruppe erfolgte die Transplantation im Mittel nach vier Wochen.
Das leukämiefreie Überleben ein Jahr nach der Transplantation zeigte keine signifikanten Unterschiede zwischen beiden Gruppen (69 % vs. 71,5 %), ebenso wie das Gesamtüberleben ein Jahr und drei Jahre nach Studieneinschluss (71,9 % vs. 69,1 % und 54,2 % vs. 51 %).
„Die für die AML-Therapie aufgezeigte Perspektive, Nebenwirkungen und Krankenhausaufenthalte bei gleich guten Behandlungsergebnissen zu reduzieren, ist richtungsweisend“, sagt Prof. Michael Albrecht, Medizinischer Vorstand des Universitätsklinikums Carl Gustav Carus. „Die aktuelle Studie ist ein beeindruckendes Beispiel dafür, dass von der Dresdner Krebsforschung mittlerweile Impulse ausgehen, von denen Patienten weltweit profitieren. Noch vor 25 Jahren hätte das kaum jemand für möglich gehalten!“