Therapiealternative beim Rektumkarzinom: Strahlentherapie kann den Organerhalt ermöglichen
23.02.2024 - Die multimodale Behandlung des Rektumkarzinoms unterliegt seit mehr als zwei Jahrzehnten einer stetigen Ausdifferenzierung in Diagnostik und Therapie mit unterschiedlichen Therapiezielen sowie Risiken und Nebenwirkungen.
Prinzipiell stehen unterschiedliche Kombinationen der Chirurgie, der Radio- und der Chemotherapie zur Verfügung. Die neoadjuvante Radiochemotherapie und ein anschließendes „Wait and Watch“-Vorgehen können neueren Daten zufolge in manchen Fällen eine Operation obsolet machen und den Organerhalt auch langfristig ermöglichen.
Die neoadjuvante Therapie mit einer kombinierten Radiochemotherapie hat viele Vorteile, darunter ein höheres krankheitsfreies Überleben („disease free survival“, DFS), eine geringere Metastasierungsrate und die Möglichkeit, einen künstlichen Darmausgang früher rückverlegen zu können [1]. Doch wie sieht die optimale neoadjuvante Therapie aus?
Eine Sekundärauswertung der CAO/ARO/AIO-12-Studie [2], einer randomisierten Phase-II-Studie aus 18 Zentren in Deutschland, zeigte, dass mehr Patientinnen und Patienten mit Rektumkarzinomen im Stadium T3–4 oder mit Lymphknotenbefall eine pathologische Komplettremission erreichen, wenn sie vor der OP zunächst eine Radiochemotherapie und dann eine Chemotherapie erhalten (im Vergleich zur umgekehrten Abfolge der neoadjuvanten Therapien). Die Rate der pathologischen Komplettremission betrug 25 Prozent respektive 17 Prozent. Die europäische RAPIDO-Studie [3] zeigte einen Zusatzeffekt einer vorgelagerten Radiotherapie vor Chemotherapie und anschließender Operation im Vergleich zu einer kombinierten Radiochemotherapie, gefolgt von der OP und bei Bedarf einer adjuvanten Chemotherapie. Im experimentellen Arm mit der vorgelagerten Radiotherapie betrug die Wahrscheinlichkeit des Therapieversagens 23,7 Prozent, im Vergleichsarm 30,4 Prozent.
„Aufgrund dieser Datenlage ist die Behandlungsabfolge aus präoperativer Radiotherapie oder Radiochemotherapie, konsolidierender Chemotherapie und OP, die als totale neoadjuvante Therapie (TNT) bezeichnet wird, insbesondere bei Patientinnen und Patienten mit Hochrisiko-Rektumkarzinomen der derzeitig empfohlene Therapiestandard“, erklärte Prof. Dr. med. Ursula Nestle, Mönchengladbach, Sprecherin der Arbeitsgemeinschaft Radiologische Onkologie (ARO) der Deutschen Krebsgesellschaft.
Die hohe Rate der pathologisch gesicherten Komplettremissionen ermögliche aber auch, so die Expertin, Betroffene einer „Watch and Wait“-Strategie (w&w) zuzuführen. Dieses Vorgehen unterstützten die Assoziation Chirurgische Onkologie in der Deutschen Gesellschaft für Allgemein- und Viszeralchirurgie e. V. sowie die AIO und ARO, zwei Arbeitsgruppen der Deutschen Krebsgesellschaft, in ihrer gemeinsamen Stellungnahme im Jahr 2020 [4]: „Die ungefähr verdoppelten Raten an pathologisch bestätigter Komplettremission (pCR) durch TNT-Konzepte (…) bereiten nun den Weg für eine breitere Umsetzung des w&w-Konzeptes.“
Es mehren sich Hinweise, dass durch die w&w-Strategie einem nennenswerten Anteil der Betroffenen die Operation ganz erspart werden kann. „Die noch unpublizierte deutsche CAO/ARO/AIO-16-Studie (NCT03561142) weist darauf hin, dass ca. 40 Prozent derer, die ein gutes Ansprechen auf die neoadjuvante Therapie zeigten, dauerhaft eine klinische Komplettremission erreichen“, so Nestle. Prof. Dr. med. Emmanouil Fokas, Universitätsklinikum Köln, wird für die deutsche Rektumkarzinom-Studiengruppe diese und weitere Daten zur multimodalen Therapie des Rektumkarzinoms am 22.2.2024 beim Deutschen Krebskongressvorstellen.
Derzeit läuft die Nachbeobachtungszeit der ACO/ARO/AIO-18.1-Studie, der weltweit größten randomisierten Phase-III-Studie zum Organerhalt beim Rektumkarzinom. Darin wird geprüft, welche Radiotherapieform (SCRT vs. CRT) zu besseren Ergebnissen führt. In beiden Studienarmen wird nach Abschluss der totalen neoadjuvanten Therapie geprüft, ob der Tumor klinisch noch nachweisbar ist. Der Nachweis erfolgt mittels rektal-digitaler Austastung des Enddarms, Enddarmspiegelung (Rektoskopie) und MRT-Untersuchung des Beckens alle drei Monate für zwei Jahre. Wird bei diesen Untersuchungen übereinstimmend eine dauerhafte klinische Komplettremission des Tumors festgestellt (d. h., der Tumor ist klinisch und bildgebend nicht mehr nachweisbar), wird auf die Operation verzichtet. Stattdessen werden die Patientinnen und Patienten mit einer solchen klinischen Komplettremission in ein engmaschiges Nachsorgeprotokoll aufgenommen. Dabei wird regelmäßig überprüft, ob der Tumor auch ohne Operation weiterhin vollständig geheilt bleibt. Nur im Falle eines erneuten lokalen Tumorwachstums erfolgt dann die radikale Operation.
„Das Konzept ist vielversprechend“, sagt Prof. Dr. med. Claus Rödel, Sprecher der deutschen Rektumkarzinomgruppe. „Die Patientinnen und Patienten vergeben sich nichts, selbst wenn es im Verlauf doch zum Tumorwachstum kommt. Wird eine Operation notwendig, ist die Prognose der Betroffenen nicht schlechter, als wenn sie sofort operiert worden wären“, erklärt Prof. Fokas. Als Vorteil des w&w-Vorgehens führt er eine bessere Lebensqualität an. Ein Nachteil könne die Notwendigkeit des längeren Follow-ups sein. Dass die meisten Betroffenen die w&w-Strategie dennoch als attraktiv einschätzen, zeigte sich kürzlich daran, dass die Rekrutierungsphase der ACO/ARO/AIO-18.1-Studie zwei Jahre früher als geplant erfolgreich abgeschlossen werden konnte. Die finalen Ergebnisse der Studie werden nach Abschluss der Nachbeobachtungszeit in etwa zwei Jahren erwartet.
Literatur
[1] Ludmir et al. Cancer 2017; Petrelli et al. Ann Surg 2020; Fokas et al. Lancet Oncol 2020; Glynne-Jones et al. Ann Oncol 2017; Conroy et al. Lancet Oncol 2021; Garcia-Aguilar et al. ASCO 2020; Bahadoer et al. Lancet Oncol 2021.
[2] Fokas E, Schlenska-Lange A, Polat B et al.; German Rectal Cancer Study Group. Chemoradiotherapy Plus Induction or Consolidation Chemotherapy as Total Neoadjuvant Therapy for Patients With Locally Advanced Rectal Cancer: Long-term Results of the CAO/ARO/AIO-12 Randomized Clinical Trial. JAMA Oncol. 2022 Jan 1; 8 (1):e215445.
[3] Bahadoer RR, Dijkstra EA, van Etten B et al.; RAPIDO collaborative investigators. Short-course radiotherapy followed by chemotherapy before total mesorectal excision (TME) versus preoperative chemoradiotherapy, TME, and optional adjuvant chemotherapy in locally advanced rectal cancer (RAPIDO): a randomised, open-label, phase 3 trial. Lancet Oncol. 2021 Jan;22(1):29-42.
[4] https://www.aio-portal.de/stellungnahmen.html