Welt-MS-Tag am 30. Mai: Die fünf wichtigsten Forschungsergebnisse der letzten 12 Monate
29.05.2024 - Am 30. Mai ist Welt-MS-Tag. Die Multiple-Sklerose-Forschung ist heute so aktiv wie nie zuvor, die Forschungsergebnisse der letzten zwölf Monate sprechen für sich.
Es gab neue Erkenntnisse zur Ätiologie und Pathogenese sowie vielversprechende Therapieinnovationen, von denen MS-Patientinnen und -Patienten in naher Zukunft profitieren können. Die fünf vielleicht wichtigsten Neuigkeiten aus der Forschung hat Prof. Dr. Sven Meuth, MS-Experte und Leiter der Klinik für Neurologie am Universitätsklinikum Düsseldorf, zusammengestellt.
In jahrelanger Arbeit [1-4] hat man prähistorische menschliche Knochenproben aus der ganzen Welt analysiert und darin die heute bekannten MS-Risiko-Gene verglichen. Es zeigte sich, dass das MS-Risiko vor etwa 5.000 Jahren mit Völkerwanderungen aus der pontisch-kaspischen Steppe nach Europa gebracht wurde. Die MS-Gene lagen und liegen in chromosomaler Nachbarschaft zu immunologischen Genvarianten, die wiederum damals einen Selektionsvorteil durch eine bessere Immunabwehr bestimmter Erreger bedeuteten. Im Verlauf der Geschichte veränderten sich die Lebensbedingungen und bestimmte Infektionen spielten eine zunehmend geringere Rolle. Somit brachte die vormals günstige genetische Veranlagung für ein besonders aktives Immunsystem keinen Vorteil mehr, stattdessen führt diese Überaktivierung des Immunsystems nun zur Erhöhung des MS-Risikos. Es gibt Parallelen des beschriebenen Phänomens mit einer Entwicklung in heutiger Zeit. Wahrscheinlich werden wir die aktuellen Veränderungen des Lebensstils und der Umwelt (z. B. Klima, Feinstaub) und deren Einfluss auf neurologische Krankheitsbilder erst in Verlauf verstehen. „Hier sind in den nächsten Jahren weitere Erkenntnisse zu erwarten, die v. a. Fortschritte bei der Prävention bedeuten können“, so Prof. Meuth.
Auf dem Gebiet der medikamentösen MS-Langzeitbehandlung gibt es inzwischen 10-Jahres-Daten zu Ocrelizumab (OCR), einem hochwirksamen monoklonaler Anti-CD20-Antikörper, bei > 312.000 Menschen über > 750.000 Patientenjahre. Damit sind verlässliche Aussagen zur langfristigen Wirksamkeit und einem günstigen Sicherheitsprofil möglich. „Die vielleicht wichtigste Erkenntnis war, dass eine früher begonnene Therapie mit OCR zu besseren Langzeitergebnissen führt (Schubratenreduktion und weniger Behinderungen), d. h. eine initiale Therapie, oft auf Patientenwunsch, mit ‚weniger starken‘ Medikamenten ist nur bedingt sinnvoll“, erläutert Meuth. Eine Studie zeigte, dass die Wirksamkeit von OCR schlechter ist, wenn es später eingesetzt wird [5]. 9-Jahres-Daten zeigen bei OCR-Erstlinientherapie in 48,2 % NEDA („No evidence of disease activity“) versus 25,7 % bei im Verlauf erfolgter Umstellung von Interferon auf OCR [6]. Die frühzeitige OCR-Gabe sicherte motorische Funktionen, die sonst später nicht wiedergewonnen wurden [7].
Vielversprechend sind auch Bruton-Tyrosin-Kinase-Inhibitoren (BTKi) aus der onkologischen Therapie. Sie hemmen die B-Zell-Proliferation und werden nun auch bei Autoimmunerkrankungen getestet (z. B. Evobrutinib, Remibrutinib, Orelabrutinib, Tolebrutinib, Fenebrutinib [8]). Der Vorteil der BTKi ist, dass es „small molecules“ sind, die anders als Antikörper das Blut verlassen können und auch in Gewebe gelangen, wo sie neben der B-Zell-Hemmung weitere Immunzellen modifizieren, wie z. B. die Mikroglia im Gehirn. Am weitesten fortgeschritten ist das klinische Studienprogramm EVOLUTION mit zwei randomisierten, doppelblinden Phase III-Studien mit Evobrutinib [9]. Diese verfehlten jedoch den primären Endpunkt (Verringerung der jährlichen Schubraten), woraus abgeleitet wird, dass positive Therapieeffekte mit klassischen Studiendesigns vermutlich gar nicht mehr gezeigt werden können. Der Grund ist, dass die Schubraten heute durch die Therapiefortschritte des letzten Jahrzehnts schon zu gering ist, um eine weitere signifikante Reduktion zu zeigen. „Für die Zukunft ist daher zu überdenken, ob die Schubrate tatsächlich einen geeigneten primären Endpunkt darstellt, wenn das eigentliche Therapieziel die Reduktion langfristiger Behinderung ist“, so Meuth.
Eine hochinnovative, zielgerichtete Immuntherapie ist die CAR-T-Zell-Therapie. Diese in der Onkologie bereits eingesetzte Therapie kann prinzipiell Autoimmunerkrankungen sogar heilen. Sie wurde in Einzelfällen bei neurologischen Erkrankungen angewendet, die zuvor therapierefraktär waren. Das Problem sind die potenziellen Nebenwirkungen, denn das Immunsystem wird so massiv aktiviert, dass es zu einer gefährlichen generalisierten, systemischen Entzündungsreaktion kommen kann. „Nutzen und Risiken müssen gut abgewogen werden; eine CAR-T-Zell-Therapie bei MS ist nur in bestimmten Fällen geeignet“, betont Meuth. Klinische Studienprogramme zu CAR-T-Zelltherapien bei der MS laufen bereits.
Ein weiterer Meilenstein auf dem Weg zur personalisierten MS-Therapie war die Entdeckung von drei Endophänotypen der frühen MS [10]. In einer prospektiven, multizentrischen Kohorte von mehr als 1.200 therapienaiven Patientinnen und Patienten mit früher MS konnten drei immunologische Subtypen der frühen MS identifiziert werden, die möglicherweise eine unterschiedliche Pathogenese haben. Jeder der drei zeigte ein anderes Muster zellulärer Signaturen und spezifische Merkmale der Immunzell-Kompartimente (z. B. unterschiedliche Anteile von CD4-Gedächtnis- oder CD8 T-Zellen). Das Vorhandensein der drei immunologischen Endophänotypen wurde in einer unabhängigen Validierungskohorte von 232 MS-Patienten bestätigt. „Da MS-Standard-Immuntherapien Immunsignaturen unterschiedlich modifizieren, könnte über den Endophänotyp möglicherweise der Krankheitsverlauf und das Therapieansprechen vorhergesagt werden“, erklärt Meuth.
„Diese fünf Themen demonstrieren eindrucksvoll den kontinuierlichen Forschungsfortschritt bei der Multiplen Sklerose, der sich in Klinik und Praxis zügig in verbesserte Therapien und Versorgungsmöglichkeiten der Betroffenen übersetzen lässt“, so DGN-Pressesprecher Prof. Dr. med. Peter Berlit.
[1] Barrie W, Yang Y, Irving-Pease EK e al. Elevated genetic risk for multiple sclerosis emerged in steppe pastoralist populations. Nature 2024 Jan;625 (7994): 321-328
[2] Irving-Pease EK, Refoyo-Martínez A, Barrie W et al. The selection landscape and genetic legacy of ancient Eurasians. Nature 2024 Jan;625 (7994): 312-320
[3] Allentoft ME, Sikora M, Refoyo-Martínez A et al. Population genomics of post-glacial western Eurasia. Nature 2024 Jan; 625 (7994): 301-311
[4] Allentoft, M.E., Sikora, M., Fischer, A. et al. 100 ancient genomes show repeated population turnovers in Neolithic Denmark. Nature 2024; 625: 329–337
[5] Pfeuffer S, Rolfes L, Ingwersen J et al. Effect of Previous Disease-Modifying Therapy on Treatment Effectiveness for Patients Treated With Ocrelizumab. Neurol Neuroimmunol Neuroinflamm 2023 Apr 11; 10 (3): e200104
[6] Cerqueira JJ. Long-Term Treatment With First-Line Ocrelizumab in Patients With Early RMS: 9-Year Follow-Up Data From the OPERA Trial I (NCT01247324), OPERA II (NCT01412333). Presented at the 75th Annual Meeting of the American Academy of Neurology (AAN),April 22–27, 2023; Boston, MA, USA & Virtual, Oral Presentation number 002 – S46
[7] Weber MS et al. Delayed Signs of Early Disability Progression After 8.5 Years of Ocrelizumab Treatment in Patients With Relapsing Multiple Sclerosis. OPERA I (NCT01247324), OPERA II (NCT01412333). Presented at the 75th Annual Meeting of the American Academy of Neurology (AAN), April 22–27, 2023; Boston, MA, USA & Virtual Oral presentation number S46.003
[8] Dybowski S, Torke S, Weber MS. Targeting B Cells and Microglia in Multiple Sclerosis With Bruton Tyrosine Kinase Inhibitors: A Review. JAMA Neurol 2023 Apr 1;80 (4): 404-414
[9] Barboza A. It is time to rethink clinical trials on Bruton's tyrosine kinase inhibitors in multiple sclerosis. Mult Scler Relat Disord 2024 Feb; 82: 105395
[10] Gross CC, Schulte-Mecklenbeck A, Steinberg OV et al.; German Competence Network Multiple Sclerosis (KKNMS). Multiple sclerosis endophenotypes identified by high-dimensional blood signatures are associated with distinct disease trajectories. Sci Transl Med 2024 Mar 27; 16 (740): eade8560