Gesundheitsökonomie

Demenzsensible Architektur: Interview mit Birgit Dietz

12.07.2019 -

Birgit Dietz lehrt seit 2008 an der Technischen Universität München das Fach „Krankenhausbau und Bauten des Gesundheitswesens“ an der Fakultät für Architektur sowie „Architektur für Menschen mit kognitiven Einschränkungen und Menschen mit Demenz“ an der Fakultät für Medizin. 2012 begann sie mit dem Aufbau des Bayerischen Instituts für alters- und demenzsensible Architektur (BIfadA). Es folgt der zweite und abschließende Teil unseres Gesprächs mit Birgit Dietz.

Frau Dietz, Sie sprechen ja von „demenzsensibler Architektur“. Damit geht es Ihnen nicht nur um Gestaltungselemente, um ­Interieur, sondern auch um das Gebäude und seine Konstruktion selbst?

Birgit Dietz: Richtig, wir sprechen in der Architektur von der Meso-, der Makro- und der Mikroebene. Das heißt, dass eine alters- und demenzsensible Planung sowohl in Bezug auf die Umgebung und Infrastruktur, mit Blick auf Gebäude und Prozesse, sowie auf Räume und ihre Benutzer erfolgen sollte. Konkret muss also zum Beispiel die Frage „Wie komme ich an?“ von zuhause aus über die Parkmöglichkeiten und der Anbindung an den ÖPNV über ein inneres Erschließungskonzept bis hin zu den spezifischen Anforderungen von unsicheren, kognitiv eingeschränkten Menschen an Räume inklusive Signaletik alles mitgedacht werden. Je einfacher das Ankommen und dann die Struktur des Baus zu verstehen sind, desto lockerer ist dies für alle.

Dann lassen Sie uns doch einmal in das Innere einer stationären Pflegeeinrichtungen begeben, in denen ein demenzerkrankter Bewohner lebt. Es gibt ja verschiedene Konzepte – aber egal ob ein eher klassisches oder ein Wohngruppenmodell installiert ist, gibt es ja private und öffentliche Bereiche. Welche Prinzipien legt eine „demenzsensible Architektur“ hier nahe?

Birgit Dietz: Man kann es gar nicht oft genug sagen: Die wichtigste Aufgabe einer demenzsensiblen Architektur ist es, die sich verändernden und abnehmenden körperlichen und geistigen Fähigkeiten von älteren bzw. an Demenz erkrankten Menschen durch bauliche oder gestalterische Maßnahmen zu unterstützen bzw. soweit als möglich dies zu kompensieren. Ich stelle es mir immer wie eine Waage vor. Denn in dem Maß, in dem die Anpassungsfähigkeit an die Umgebung und die Handlungskompetenzen auf der einen Seite abnehmen, spielt die Umwelt für das Sich-sicher-Fühlen und Sich-Zurechtfinden eine immer größere Rolle und muss auf der anderen Seite ausgleichend wirken. Ein Gefühl von Sicherheit, Orientiertheit und Vertrautheit erhöht Autonomie und emotionale Stabilität. Wenn Angst, Stress, Verwirrtheit, Unsicherheit und Unfallrisiken minimiert werden, bedeutet das nicht nur für die unmittelbare Zielgruppe eine Erhöhung der Lebensqualität und Selbstbestimmtheit sondern auch für Mitbewohner, Angehörige, Pflege- und Klinikpersonal eine signifikante emotionale und zeitliche Entlastung.

Wie sähe demnach beispielsweise der Ankommens- und Eingangsbereich am besten aus?

Birgit Dietz: Der Haupteingang muss intuitiv gefunden werden, sobald das Gebäude gesehen wird – oder es muss ein deutlicher Hinweis auf ihn zu erkennen sein. Für das Ankommen sind ein Vorplatz mit Dach als Wetterschutz und Zone des Übergangs sowie Sitzmöglichkeiten in der Sonne und im Schatten, versteckte und öffentlichere Bereiche zum Sehen und Gesehenwerden wünschenswert, aber auch ein Bereich für Raucher. Eingangshallen sollten einen angenehmen Übergang von außen nach innen bieten. Kein hoher Leuchtdichtekontrast am Boden (z. B. durch Muster oder Schmutzfangmatten), eine Tür, die einfach bedient werden kann, drinnen soll es nicht viel dunkler bzw. heller sein als tagsüber draußen. Für eine Krankenhausplanung ist eine Wegetrennung von Patienten, Personal und Besuchern üblich. Auch dies muss sorgfältig geplant sein, damit es ohne viel Nachfragen funktioniert. Besonders stressig ist natürlich das Ankommen über eine Notaufnahme, hier sind ruhige Zonen und eine Aufnahmestation besonders wichtig.

Gehen wir weiter in die Innenbereiche...

Birgit Dietz: Enorm wichtig ist auch eine gute Lichtgestaltung, weil Menschen im Alter mehr Licht benötigen, Sehschärfe und Kontrastempfindlichkeit bei den Farben abnehmen, besser Warm- als Kalttöne erkannt werden und die Blendempfindlichkeit zunimmt. Sprich, optimal ist möglichst viel Tageslicht; ansonsten ist eine gleichmäßige blend-, reflexions- und schattenarme Allgemeinbeleuchtung wünschenswert. Wichtige Bedienelemente, Schalter und Türen, die von allen gefunden werden müssen, sollten gut erkennbar sein. Eine „Helligkeitskaskade“ also die Decke als hellste, der Boden als dunklere raumbegrenzende Fläche sorgt für eine verbesserte Orientierung im Raum. Auf einem dunkleren Boden fühlt sich für viele das Stehen sicherer an. Eine gute Signaletik, die Bild, Farbe und Schrift konsequent verbindet, verhindert Verirren, gibt Sicherheit und stärkt Selbstbestimmtheit. Umgekehrt können Ein- und Ausgänge, die von Bewohnern nicht genutzt werden sollen, sowie unreine Arbeitsräume für das Personal etc. möglichst unauffällig gestaltet werden, Beschilderungen zurückhaltend ausgeführt sein. Ein brauner Sessel auf braunem Fußboden ist nun mal für einen älteren Menschen schlecht zu erkennen und beim Hinsetzen entsprechend schwer zu „treffen“. Armlehnen mit Übergriff erleichtern im Übrigen das Aufstehen und Hinsetzen ungemein. Übrigens: Ob ein ausreichend hoher Leuchtdichtekontrast vorhanden ist, lässt sich sehr gut selbst mit einem schwarz-weiß-Foto überprüfen, oder man geht einfach mal mit einer Alterssicht-Simulationsbrille „Grauer Star“ durch die Einrichtung.

Wie sollte das Thema Akustik behandelt werden?

Birgit Dietz: In allen Bereichen einer Pflegeeinrichtung sollte auf eine gute Raumakustik geachtet werden. Lärmvermeidung beginnt bei der Grundstückswahl. Aber auch Abläufe können Störschall mit sich bringen. Getan werden kann viel, auch im laufenden Betrieb - bis hin zum Umrüsten der Essenswägen auf Flüsterrollen oder dem Nachjustieren der Türschließer. Wo nötig, können Räume akustisch ertüchtigt werden. Hier gibt es vielfältige Möglichkeiten, die Nachhallzeit zu vermindern und die Sprachverständlichkeit zu erhöhen. Es lohnt sich. Denn eine gemeinsame Forschungsarbeit mit Medizinern am Klinikum rechts der Isar, die vom Bayerischen Staatsministerium für Gesundheit und Pflege gefördert wurde, hat gezeigt, dass schon Patienten mit beginnender und leichtgradiger Demenzerkrankung Umweltgeräusche signifikant schlechter erkennen konnten. Dieses Hören, ohne zu verstehen, verunsichert und macht Angst. Angst wiederum bedingt Flucht- und Aggressionstendenzen oder Erregung.

Lassen Sie uns unsere virtuelle Tour in den privaten Raum des Bewohners fortsetzen...

Birgit Dietz: Einen eigenen Bereich zu haben, ist für viele Menschen enorm wichtig. Hier sollte der persönliche Geschmack sichtbar werden dürfen. Lieblingsfarben, Möbelstücke, Bilder oder Erinnerungsstücke schaffen eine vertraute Umgebung und dafür sollte Platz sein. In den späteren Krankheitsstadien der Demenz nimmt die Bedeutung des privaten Raums mit seinen persönlichen Gegenständen zwar eher ab, in den frühen Phasen ist aber das Gegenteil der Fall. Möbelstücke müssen klar erkennbar, vertraut und stabil sein, das Bett sollte variabel aufgestellt werden können, also auch mit einer Seite an der Wand. Wand- und Bodenflächen sollten jeweils möglichst ohne verwirrende Muster gestaltet werden, damit die ungeteilte Aufmerksamkeit auf das, was dort wichtig ist, gerichtet wird und Verkennungen vermieden werden. Schränke, die für Bewohner zugänglich sein sollen, sollten gut bedienbare Griffe (z.B. dickere Bügelgriffe) haben, und bei mehreren Personen in einem Raum sollten die persönlichen Bereiche im Zimmer und in den Sanitärräumen als eigene „Territorien“ erkennbar sein. Besonders wichtig ist die Auffindbarkeit und Gestaltung des Sanitärraumes.  

Sie befassen sich in Ihrem Buch „Demenzsensible Architektur“ auch mit den Außenbereichen eines Pflege- bzw. Seniorenwohnheims. Auch hier ist in den letzten Jahren und Jahrzehnten vieles gedacht worden und entstanden. Welche Ansätze verfolgen Sie hier?

Birgit Dietz: Geschützte und gesicherte Außenanlagen und -bereiche tragen bei Menschen allgemein und besonders bei Menschen mit Demenz dazu bei, die Motivation zur Bewegung zu erhöhen und somit die vorhandenen körperlichen Ressourcen zu stärken. Gleichzeitig kommt es zu einer höheren Frequenz an Sozialkontakten. Gedächtnis und Erinnerungen werden stimuliert und die angenehme Atmosphäre sorgt für Entspannung. Alle Sinne werden angesprochen. Durch natürliches Tageslicht werden die zeitliche Orientierung und der circadiane Rhythmus unterstützt. Auch die Vitamin-D-Bildung wird befördert – es ist also enorm wichtig, für Heimbewohner einen gut zugänglichen, einladenden und sicheren Garten anzubieten.  

...den man ebenfalls gut oder schlecht gestalten kann...?

Birgit Dietz: Besondere Sorgfalt verdienen die baulichen Übergänge zwischen Innen- und Freibereich, ein Sitzplatz zum Gummistiefel Anziehen, vielleicht Hüte, eine Gießkanne. Arbeitshandschuhe können den Weg nach draußen weisen. Vordächer und Pergolen markieren den Rückweg. Für Menschen mit Demenz ist es hilfreich, die Hauptwege als Rundwege zu konzipieren, da so die Rückkehr zum Gebäudeeingang erleichtert wird und Übersichtlichkeit gegeben ist. Aufenthaltsorte sollten stabil, gemütlich und zum Teil auch sonnen- und windgeschützt sein. Sie dienen der Orientierung und laden zum Verweilen ein. Hochbeete können für Betätigungen genutzt werden, Besen und Körbe bereitstellen. Wenn es organisatorisch und platzbedingt ermöglicht werden kann, sind Tiere ein wahrhafter Schatz. Alles in allem: es lohnt sich, über diese Themen nachzudenken. Oft können die von Demenz Betroffenen noch hilfreiche Auskünfte vermitteln und erklären, was ihnen gut tut. Reden wir endlich über Demenz und mit Menschen, die mit dieser Erkrankung leben – es ist gar nicht schwer, dann einen Unterschied zu machen!

Einfache Maßnahmen – große Wirkung
Oft, so Dr. Birgit Dietz, sind es einfache Maßnahmen, die eine große Wirkung haben – für Betroffene und Pflegekräfte. So bindet ein Toilettengang mit Hilfestellung im Schnitt 16 Minuten Pflegezeit. In einem 800-Betten-Krankenhaus mit 420 Nasszellen entspricht das bei einer Belegung von 70 Prozent 560 Patienten mit sechs Nutzungsvorgängen pro Tag pro Patient: 560 Patienten x 330 Tage = 185.000 Tage x 6 = 1.110.000 Nutzungsvorgänge pro Jahr, davon 20% mit Pflegeunterstützung. Bei 220.000 Nutzungsvorgängen mit je 16 Minuten Pflegezeit ergeben sich also 58.700 Stunden im Jahr, was 33 Vollzeitstellen entspricht. (Quelle: Studie „Grey Performance” T. Guthknecht, Lausanne Health and Hospitality Group, 2012).

Diese Zahl, so Birgit Dietz, lässt sich schon durch einfache Maßnahmen wie etwa das Anbringen eines Aufklebers auf der Toilette (siehe Bild) deutlich reduzieren: Wenn der Sanitärraum gefunden wird, das Beleuchten klappt und die Bedienelemente sich deutlich vom Hintergrund abheben, dann bedeutet dies nicht nur, dass der Bewohner – sofern seine Gesamtkonstitution es noch zulässt – den Toilettengang selbständig bewältigen kann und sich damit besser fühlt, sondern auch, dass das Pflegepersonal stark entlastet wird.

Im August 2018 erschien ihr aktuelles Buch „Demenzsensible Architektur – Planen und Gestalten für alle Sinne“ im Fraunhofer IRB Verlag, ISBN 978-3-7388-0032-6.

Kontakt

Bayerisches Institut für alters-und<demenzsensible Architektur BIfadA

Gaustadter Hauptstr. 109 A
96049 Bamberg

+ 49 951 96515-0
+ 49 951 96515-55

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