Neue Versorgungsformen machen Sinn, aber …
Engagement der Krankenkassen – Zurückhaltung der Politik
Die Impulse zur Überwindung der sektoralen Abschottung im Gesundheitswesen gingen von den letzten beiden Bundesregierungen aus. Die Akteure des Marktes nahmen diese Impulse auf, schnell wurden in Netzstrukturen mit IV-Verträgen und Medizinischen Versorgungszentren (MVZ) Verbesserungen für Patienten erreicht, Kosten gesenkt. Der 5. Kongress der Gesundheitsnetzwerker in Berlin spiegelte die Problematik der Weiterentwicklungen wider: Die Krankenkassen und viele Ärzte engagieren sich, die politisch Verantwortlichen halten sich allerdings zurück: Weder ein Vertreter des Bundesgesundheitsministeriums noch ein Ländervertreter nahm am Kongress teil. Zwar wurde am § 116b SGB zur Gründung von MVZ der Krankenhäuser noch nichts geändert, doch skeptische Äußerungen aus dem Bundesgesundheitsministerium lassen Rückschritte befürchten.
„Koordination und Integration" lautete das Motto des Kongresses. Für die Weiterentwicklung der Neuen Versorgungsformen ist eine kritische Bestandsaufnahme nötig. Netze der Integrierten Versorgung sind dann erfolgreich, wenn sie Versicherte mit bestimmten Krankheitsindikatoren in einem räumlich abgegrenzten Gebiet ansprechen, wenn sie mit klaren Strukturen und verbindlichen Absprachen arbeiten. Als entscheidende Voraussetzung für das Funktionieren der Neuen Versorgungsformen haben sich die IT-Vernetzung und der Zugang zu gemeinsamen Patientendaten herausgestellt. Hinzu kommen neben den messbaren Erfolgskriterien für die Kostenträger notwendige Anreizsysteme für alle Beteiligte, den Leistungserbringern und den Patienten.
Weiterentwicklungen bei der Knappschaft Bahn-See
Die Knappschaft Bahn-See, Bochum, realisiert mit 150.000 eingeschriebenen Patienten und verschiedenen Formen der Integrierten Versorgung populationsbezogen das größte Projekt der Neuen Versorgung. 1.200 Ärzte sind in kleineren Teil-Netzen organisiert, arbeiten nach von der Knappschaft entwickelten Behandlungspfaden. Die Knappschaft hat ein eigenes Institut für Versorgungsforschung. Da festgestellt wurde, dass sich lediglich 30% der beteiligten Ärzte tatsächlich in den jeweiligen Programmen engagieren, soll künftig konsequent nach dem Prinzip Pay for Performance vorgegangen werden. Auch begründet im deutlich überproportional hohen Anteil älterer, multimorbider Patienten an den Knappschaft-Versicherten wird zudem künftig ausschließlich ganzheitlich und indikationsübergreifend vorgegangen. Case Manager begleiten und betreuen Hochrisikopatienten. Pflegeberater initiieren u.a. Risikoprävention bei Pflegefällen. Auch sollen die für viele Krankenhauseinweisungen und Todesfälle verantwortlichen unerwünschten Arzneimittelwirkungen reduziert (Patienten in der Pflege nehmen bis zu zehn Wirkstoffe täglich, nicht mehr als drei sollten es nach den Leitlinien sein) und Krankenhauseinweisungen am Wochenende aufgrund von Pflegepersonaldefiziten vermieden werden. Die Knappschaft finanziert Diagnostikstationen an Krankenhäusern, um zu verhindern, dass aus unzureichend versorgten Pflegepatienten stationäre Fälle werden.
Gesundes Kinzigtal
Die Programme des überregional bekannt gewordene Netzes „Gesundes Kinzigtal" werden bei einem hohen Anteil der Versicherten in der Region mit 4.800 Teilnehmern und beispielgebenden Zielsetzungen (Senkung der Prävalenz chronischer Krankheiten durch Prävention, Optimierung der Vor-Ort-Versorgung und der Ablaufprozesse, passgenaue Sekundärprävention) inzwischen etwas besser angenommen, dennoch sind die Teilnehmerzahlen weiter ernüchternd (kein Programm erreicht mehr als 1.000 Teilnehmer). Wichtige Voraussetzung für die Weiterentwicklung und den Erfolg sind zum einen die jetzt erreichte IT-Vernetzung aller Beteiligten und zum andern die hohe Beteiligung der Leistungserbringer in der Region (54% der Arztpraxen, Krankenhäuser mit 85% der Fallzahlen, 60% der Pflegeheim-Bewohner, 80% der Fitnessstudios). Auch im Kinzigtal wird der weitgehenden Beteiligung der Patienten und der wissenschaftlichen Evaluation ein hoher Stellenwert eingeräumt. Schon jetzt konnte festgestellt werden, dass die Arzneimittelkosten für die in den Programmen eingeschriebenen Patienten deutlich unter dem Durchschnittswert der nicht eingeschriebenen Patienten in der Region bzw. in Baden-Württemberg insgesamt liegen.
Erwartungen der Ärzte
Eine während des Kongresses vorgestellte aktuelle Befragung unter Vorständen und Geschäftsführern von Netzen Integrierter Versorgung ergab, dass ein Hauptmotiv des Engagements die Verbesserung der Patientenversorgung ist. Die regionale Versorgung, die Zusammenarbeit der Leistungserbringer durch integrierte Behandlungspfade, auch die Prävention soll verbessert werden. Ein wichtiges Motiv ist ferner, ein anerkannter Vertragspartner für die Krankenkassen zu sein, werden doch diese im Gegensatz zu den Kassenärztlichen Vereinigungen als Haupttreiber der Neuen Versorgungsformen gesehen.