Priorisierung im Gesundheitswesen
25.09.2015 -
Ein adäquater Umgang mit begrenzten Ressourcen in der Gesundheitsversorgung kann nur gelingen, wenn Entscheidungskriterien transparent und nachvollziehbar sind.
Kostendruck und knappe Ressourcen in der Gesundheitsversorgung sind allgegenwärtig. Angesichts des demografischen und epidemiologischen Wandels sowie der stetigen Erweiterung der medizinischen Möglichkeiten stehen die Akteure des Gesundheitswesens mehr denn je vor der Frage, wie sie den wachsenden Bedarf an medizinischen Leistungen decken können.
Initiativen wie die von der Deutschen Forschungsgemeinschaft finanzierte, interdisziplinär arbeitende Forschergruppe „FOR 655 Priorisierung in der Medizin“ suchen daher intensiv nach geeigneten Lösungsansätzen. Die kürzlich im „European Journal of Health Economics“ veröffentlichte Studie „Attitudes of Germans towards distributive issues in the German health system“ beleuchtet vor diesem Hintergrund die Haltung der Deutschen zum Umgang mit begrenzten Mitteln in der Gesundheitsversorgung. Viele der Befragten zeigten sich skeptisch oder ablehnend, wenn der Zugang zu therapeutischen Maßnahmen von bestimmten Eigenschaften des Patienten wie dessen Alter oder Rauchgewohnheiten abhängig gemacht werden sollte. Dieses Ergebnis verdeutlicht, dass die Verteilung knapper medizinischer Ressourcen auf eine höhere Zahl von Bedarfsfälle hierzulande problematisch ist. Der Deutsche Ärztetag hatte schon 2009 eine breite öffentliche Diskussion über das Thema Priorisierung im Gesundheitswesen gefordert. Doch obwohl es seitdem eine Reihe von Vorstößen zur Förderung des gesellschaftlichen Diskurses gab, herrscht weiterhin Nachholbedarf.
Strategien im Umgang mit Ressourcenknappheit
Bei einem adäquaten Umgang mit begrenzten Ressourcen geht es darum, ökonomische Anforderungen mit der besonderen ethischen Verantwortung der Gesundheitsversorgung in Einklang zu bringen. Zunächst sind daher meist Rationalisierungsmaßnahmen das Mittel der Wahl. Sie zielen auf Effizienzsteigerung ab, beispielsweise durch optimierte Prozesse. Doch mittlerweile haben zahlreiche Rationalisierungsinitiativen das Potential für Effizienzsteigerungen in den Prozessen der Gesundheitsversorgung weitgehend ausgeschöpft. Da weiter gespart werden muss, sind alternative Lösungen notwendig.
Ein zeitgemäßer Ansatz ist die Priorisierung. Dabei ist der Begriff klar abzugrenzen: Während bei einer Rationierung grundsätzlich verfügbare Leistungen vorenthalten werden, bringt man bei der Priorisierung medizinische Indikationen, Methoden, Behandlungsziele, Patienten- oder Krankheitsgruppen in eine Rangreihe. An oberster Stelle befinden sich die als vorrangig eingestufte, an unterer Stelle die als nachrangig beurteilte Elemente. Sind die Ressourcen knapp, orientiert sich die Verteilung an der Prioritätenliste. Bislang fehlt es jedoch an einem Konsens über Kriterien, die es erlauben, transparent und nachvollziehbar über die Vor- oder Nachrangigkeit medizinischer Leistungen zu entscheiden. Die bereits erwähnte Forschergruppe „FOR 655“ setzt sich mit den offenen Fragen in diesem Bereich auseinander und sucht nach umsetzbaren, rechtskonformen und ethischen Priorisierungsverfahren, die den Interessen von Patienten, Medizinern und Bürgern gerecht werden.
Erfahrungen der Transplantationsmedizin
Innerhalb der Gesundheitsversorgung gibt es Bereiche, die bereits Erfahrung im Umgang mit Priorisierung haben. So befasst sich die Transplantationsmedizin seit Langem mit einer Ressourcenknappheit: Der Anzahl gespendeter Organe steht ein weit höherer Bedarf an Spenderorganen gegenüber. Daher ist es erforderlich, die vorhandenen Spenderorgane auf Basis nachvollziehbarer Kriterien zu verteilen. Medizinisches Fachwissen, ethische Überlegungen und rechtliche Aspekte beeinflussen diese Kriterien. Doch auch dabei gibt es offene Fragen, die in einem gesamtgesellschaftlichen Kontext zu klären wären. Zum Beispiel, ob ein Organ eher an einen Patienten vergeben werden soll, der die Transplantation dringender benötigt, oder an einen Patienten, dem die Transplantation wahrscheinlich längerfristig nützt. Doch gleichgültig, ob es um Vergabekriterien oder andere Fragen geht, das zentrale Ziel sollte stets darin liegen, das Vertrauen in die Transplantationsmedizin zu stärken. Vertrauensverlust, beispielsweise aufgrund von Auffälligkeiten in einzelnen Zentren, wirkt sich negativ auf die Spendenbereitschaft und damit auf die Überlebenschance betroffener Patienten aus. Unbedingt erforderlich sind daher lückenlose Aufklärung und stetige Verbesserungen.
Kein Widerspruch zwischen Ethik und Ökonomie
Der hohe Stellenwert von Vertrauen lässt sich auch auf andere Bereiche der Gesundheitsversorgung übertragen: Wenn ökonomische Überlegungen in den öffentlichen Diskussionen um die Ressourcenverteilung zu viel Raum einnehmen, sind Patienten verunsichert. Dabei ist ein umsichtiger Umgang mit knappen Mitteln integraler Bestandteil des ärztlichen Berufsethos. Wenn komplexe Entscheidungen in schwer überschaubaren Bereichen getroffen werden, muss maximale Transparenz Unsicherheiten entgegenwirken. Denn eine vertrauensvolle Arzt-Patient-Beziehung ist die Basis für den Behandlungserfolg.
Obwohl sich die aktuellen Fragen der Gesundheitsversorgung in einem Spannungsfeld zwischen Ökonomie und Ethik bewegen, sollte kein grundsätzlicher Gegensatz konstruiert werden. Ökonomische und ethische Vernunft sind im Gesundheitswesen sehr wohl miteinander zu vereinbaren. Dabei kommt es auf eine zielgerichtete Weiterentwicklung der Gesundheitsökonomie an, um eine ausgewogene Balance zwischen wirtschaftlichen und ethischen Überlegungen zu schaffen. Orientierung gibt eine konsequente Ausrichtung am Menschen: Die Not des Patienten ist der Effizienz und Wirtschaftlichkeit nicht unterzuordnen, vielmehr dienen ökonomische Überlegungen der Unterstützung des leidenden Patienten. Ein ausgewogener Abwägungsprozess ist dabei zwingend erforderlich – genauso wie eine offene Debatte über den Umgang mit knappen Ressourcen. Nur so können wir sicherstellen, dass Mittel sinnvoll zum Wohl des Patienten eingesetzt werden.