IT & Kommunikation

Corona-Krise beschleunigt Telemedizin

09.06.2020 -

Einer der wenigen positiven Aspekte der Corona-Krise: die Menschen verstehen den Nutzen digitaler Anwendungen.

66 % der Deutschen sind einer Bitkom-Umfrage zufolge angesichts der Covid-19-Krise jetzt bereit, sich per Ferndiagnose beraten zu lassen. Ein US-amerikanischer Roboterhersteller möchte seine Roboter an die Krankenbetten Covid-19-infizierter Patienten herantreten und via Videokonferenz mit Ärzten und Pflegepersonal kommunizieren lassen. Schleswig-Holstein bietet seit Anfang April rund um die Uhr eine telemedizinische Versorgung in allen Justizvollzugsanstalten an. Welche Chance das bietet, erklärt Prof. Dr. Jörg Debatin vom Health Innovation Hub.

M&K: Telemedizin ist plötzlich akzeptiert und in aller Munde. Erleben wir jetzt den Durchbruch für die digitale Medizin?

Prof. Dr. Jörg Debatin: Einer der wenigen positiven Aspekte, die Corona mit sich bringt, ist die Tatsache, dass die Menschen den Nutzen digitaler Anwendungen erleben und nun auch verstehen. Wir müssen nicht mehr ständig über Cybersecurity und Datenschutzprobleme diskutieren, auch wenn diese Themen berechtigterweise immer aktuell bleiben werden. Denn eine hundertprozentige Sicherheit wird es im digitalen Zeitalter nicht geben. Im Unterschied zu früher diskutieren wir den Nutzen nicht mehr abstrakt, sondern sehr konkret. Um das an Telemedizinplattformen festzumachen: wer chronisch krank ist und sich bislang für jede Rezeptverlängerung einmal im Quartal zum Arzt ins Wartezimmer setzen musste, kann das jetzt per Video oder möglicherweise in Zukunft auch mit asynchroner Kommunikation erledigen. Das werden sich die Menschen nach der Corona-Krise nicht mehr nehmen lassen.

Welche Zwischenbilanz ziehen Sie zum Einsatz von Telemedizin in der Corona-Krise?

Debatin: Ich möchte zunächst gerne beim Thema Videosprechstunde bleiben. Wenn man sich die Zahlen anschaut, dann hat sich da in wenigen Wochen enorm viel verändert. Im Januar dieses Jahres hatten sich gerade einmal 1.500 von 170.000 niedergelassenen Ärzten auf einer der Telesprechstunden-Plattformen registriert um ihren Patienten die Option der Videosprechstunde anzubieten. Inzwischen (Anfang Mai 2020) sind es über 100.000 Ärzte bundesweit. Das zeigt eindrucksvoll, was sich in acht Wochen verändert hat. Die Kollegen haben gemerkt, dass die Menschen diese Dienstleistung nachfragen und in diesen Zeiten brauchen. Hilfreich war dabei sicherlich auch die Reaktion der Betreiber dieser (zertifizierten) Plattformen. Sie haben das technische Backend rasch skaliert, ihre Dienstleistungen in der Mehrzahl kostenfrei angeboten, und auch schnell damit begonnen, die Terminierung und Dokumentation von vorhandenen Praxis-Verwaltungssystemen zu integreren.

Wenn man sich vor Augen führt, dass wir bis vor zwei Jahren noch ein Fernbehandlungsverbot hatten, zeigt sich zum einen, wie wichtig und richtig die Digitalisierungsoffensive des Bundesgesundheitsministeriums war, und zum anderen wieviel Fortschritt wir in kurzer Zeit haben machen können. Denn ohne die in über 20 Initiativen enthaltenen gesetzlichen Änderungen, wäre es nicht möglich gewesen, in dieser Form auf die Corona-Krise zu reagieren.

Möchten Sie weitere Anwendungen besonders hervorheben?

Ja, gerne –zunächst aber möchte ich den vielen Entwicklern, die in dieser besonderen Situation mit ihrem Talent und ihren Ideen den Menschen mit innovativen digitalen Angeboten in der Krise geholfen haben, ein großes Kompliment aussprechen. Von den vielen Apps, Bots und anderen Lösungen, über die wir im health innovation hub (hih) in unseren regelmässigen Newslettern immer wieder berichtet haben, möchte ich den Corona-Chatbot exemplarisch hervorheben. Besonders am Anfang hat diese interaktive App auf Basis der RKI-Richtlinien viel zur Aufklärung verunsicherter Bürger beigetragen. Ein Startup aus Leipzig hatte den Bot sehr schnell entwickelt. Aufgrund des persönlichen Profils wie der Angaben zu Kontakten und Symptomen gab sie Entwarnung – weil die Symptomatik nicht passte – oder riet dazu, die Notrufnummer anzurufen. Meines Erachtens ein hervorragendes Tool, das auf den Webseiten vieler Krankenkassen wie aber auch der Apothekenumschau millionenfach geklickt wurde und sicherlich viel Positives bewirkt hat.

Andere Apps helfen Menschen, mit Hilfe von Geräten mit Sensoren ihren Gesundheitszustand zu verfolgen. Neben der Dokumentation von Fieber, Puls und anderen Vitalparametern, erfassen sie auch die Sauerstoffsättigung, was der wahrscheinlich wichtigste Parameter bei dieser Erkrankung ist. Sinkt die Sättigung bei einem Infizierten, muss der Patient ins Krankenhaus. Via Bluetooth kommuniziert die App mit dem behandelnden Arzt, dem Gesundheitsamt oder in einigen Fällen Krankenhausärzten und macht die Daten auf deren Endgeräten sichtbar. Damit ist eine kontinuierliche Überwachung gewährleistet.

Um nachhaltig zu wirken, ist es wichtig, dass die gesammelten Daten und Apps miteinander kommunizieren können. Und auch hier kam die Gesetzgebung der letzten Monate genau zum richtigen Zeitpunkt. Beruhend auf den dort vorgegebenen Standards wie Snomed CT, LOINC oder Dicom, haben wir im hih unter Einbeziehung aller relevanten Partner den einheitlichen Standard CoCoS etablieren können. Das Kürzel steht für Corona-Component-Standards. Sie stellen sicher, dass den Entwicklungen die gleichen Datenformate zugrunde liegen. Nur so können unterschiedliche regionale Anwendungen auf andere Regionen übertragen, und Daten dahin fließen, wo sie gebraucht werden. CoCoS ist auch Garant dafür, dass diese Daten in die ab dem 1.1.2021 verfügbare elektronische Patientenakte (ePA) übernommen werden können. Natürlich hätten wir uns viele Mühen sparen können, wenn die ePA jetzt schon vorhanden gewesen wäre. Aber, verglichen mit vor zwei Jahren, ist die aktuelle Situation schon ein enormer Fortschritt. Ohne die vom Bundesministeriums für Gesundheit (BMG) ausgegangene Digitalisierungsoffensive, die in den letzten Jahren das gesamte Gesundheitswesen erfasst hat, wäre es jetzt noch weitaus schwerer, den Menschen zu helfen.

Hat die Corona-Krise auch bei der Gesetzgebung im Bereich Digitalmedizin als Katalysator gewirkt? Anders gesagt, haben Bundes- und Landesparlamente deswegen schneller weitere telemedizinische und digitale Leistungen genehmigt? Oder sind die Initiativen des Bundesgesundheitsministeriums der letzten zwei Jahren schon ausreichend?

Debatin: Eine Beschleunigung bei der Gesetzgebung haben wir nicht gesehen, aber es kam eben auch zu keiner Entschleunigung. Die Sorge vieler Hersteller von digitalen Gesundheitsanwendungen (DIGAs) war, dass die noch fehlende Verwaltungsvorschrift, die für die App auf Rezept benötigt wird, ausbleiben würde. Trotz Corona und den damit verbundenen Belastungen wurde die Vorschrift nur zwei Wochen später als eigentlich geplant verabschiedet. Den finalen Entwurf der DiGA-Rechtsverordnung (DiGAV) haben wir am 22.4 auf dem DIGA-Summit des hih in all seinen Facetten beleuchtet. In der Spitze beteiligten sich daran 2.000 Entwickler und digital Begeisterte, virtuell versteht sich. Der Enthusiasmus für die Digitalisierung im Gesundheitswesen war gut spürbar. Ganz wichtig dabei war die klare Ansage des BMG, sich durch die Pandemie nicht vom eingeschlagenen Pfad der Erneuerung abbringen zu lassen. Wir brauchen die digitalen Tools um für die nächste Krise besser vorbereitet zu sein.

Aufgrund von Corona wird die ePA zum 1.1.2021 mit sicherlich deutlich mehr Rückenwind starten. Gleiches gilt für die App auf Rezept die erstmals im Herbst dieses Jahrs erlebbar wird. Eine derartige, weltweit einzigartige Initiative hätte Deutschland vor zwei Jahren sicher niemand zugetraut. Schließlich waren wir in Sachen Digitalisierung der Medizin bislang vorne nie dabei. Dieser Bewusstseinswandel wird durch Corona jetzt nochmal verstärkt. Diese Entwicklung wird breit getragen: von der Bundesärztekammer über alle Landesärztekammern, ausgenommen Brandenburg, die KBV und vielen anderen Playern. Sie haben verstanden und durch Corona erlebt, dass digitale Technologien die Gesundheitsversorgung entscheidend verbessern können.

Welche Anwendungsfelder der Telemedizin, neben denen, die während der Krise ins Blickfeld der Öffentlichkeit geraten sind, sollten in Zukunft mehr Beachtung finden?

Debatin: Wir brauchen die umfassende Dokumentation der medizinischen Daten durch die elektronische Patientenakte (ePA). Dafür sind die regulatorischen und organisatorischen Weichen mit einer ‚neuen‘ Gematik gestellt. Jetzt muss die pünktliche Umsetzung folgen. Damit verbunden ist das elektronische Rezept mit dem elektronischen Medikationsplan. Sie ermöglichen Ärzten und Apothekern erstmals einen Überblick über sämtliche Medikamente, die ein Patient so einnimmt. Damit wird viel Positives in Hinblick auf Medikationssicherheit erreicht. Die Gesundheitsversorgung der Menschen wird sicherer und besser. Gleichzeitig wird die App auf Rezept vielen, gerade chronisch erkrankten Patienten, aber auch Patienten in postoperativen Rekonvaleszenz-Phasen helfen. Nach einer Hüft-OP verschreibt der Arzt dem Patienten eine App die Übungspläne enthält und es ihm ermöglicht, auch regelmäßig zuhause zu trainieren. Da er die Übungen dann nicht mehr nur ein bis zweimal in der Woche beim Physiotherapeuten, sondern täglich macht, wird er schneller und umfassender wieder gesund. Und genau darum geht es bei der Digitalisierung der Medizin.

Zur Person
Prof. Dr. Jörg F. Debatin leitet seit März 2019 als Chairman den health innovation hub (hih) des Bundesministeriums für Gesundheit (BMG) in Berlin. Er verfügt über breite Erfahrung an den Schnittstellen zwischen Medizin, Wissenschaft und Technologie. Nach der Facharztausbildung an der Duke University sowie Stationen in Stanford und Zürich wurde der Radiologe 1998 auf den Lehrstuhl für Diagnostische Radiologie am Universitätsklinikum in Essen berufen. 2003 wechselte er als Ärztlicher Direktor und Vorstandsvorsitzender an das Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE). U. a. durch konsequente Digitalisierung – das Klinikum arbeitet seit 2009 papierfrei – trug er zu dessen erfolgreicher Erneuerung bei. 2011 wechselte er als CEO zum europäischen Laborbetreiber amedes AG, bevor er zwischen 2014 und 2018 bei GE Healthcare, dem weltweit größten Medizintechnikunternehmen mit einem Umsatz von 19 Mrd $ als Vice-President die globale Technologie- und Produktentwicklung verantwortete.

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